München – Boris Palmer hat seine rhetorischen Talente oft bewiesen. Seit Monaten erklärt der Tübinger OB mit sichtbarem Stolz, wie seine Stadt die Härten der Corona-Pandemie abzufedern versucht. Weil sie dabei einige Erfolge vorweisen kann, ist Tübingen bundesweit zum Vorbild aufgestiegen. Bis Mittwochabend. Da genügten Palmer zwei Worte, um auf seiner Facebook-Seite die neueste Entwicklung zusammenzufassen: „Alles dicht.“
Das „Tübinger Modell“, das seit sechs Wochen gegen Vorlage eines negativen Corona-Tests das Nutzen von Einzelhandel und Kultur-Angeboten ermöglichte (anfangs auch Außengastronomie), endet am Wochenende. Mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes greift auch in der Universitätsstadt die Notbremse. Am Mittwoch betrug die Inzidenz für den Landkreis 181,5. So weit, so eindeutig.
Dass Palmer und seine Mitstreiter dennoch schwer verstimmt sind, liegt daran, dass in ihren Augen der entscheidende Wert alles andere als eindeutig ist. Innerhalb der Stadtgrenzen beträgt er lediglich 91,8. Alle übrigen Kreisgemeinden kommen hingegen auf 240. Das streng auf die Stadt beschränkte Tübinger Modell, so sieht es der OB, scheitert einzig daran, dass außerhalb die Zahlen in die Höhe schießen. Und das, obwohl dort seit zwei Wochen die Notbremse aktiviert ist. „Unser Modell hält die Zahlen unten. Und der Bundestag hat nun beschlossen, dass wir es so machen müssen wie alle Gemeinden um uns rum.“
Die Gefahr einer Schließung bestand immer, dennoch ist die Entscheidung für den Grünen-Politiker ein Schlag. Gerade erst hatte eine Untersuchung der Universität Mainz ergeben, dass die Inzidenzen zwar zwischenzeitlich stiegen, danach aber wieder abflachten. Bundesweit beriefen sich Kommunalpolitiker auf das Vorbild im Südwesten. Während sie aber vor allem guten Willen mitbrachten und zuweilen schon daran scheiterten, im Vorfeld den nötigen Vorrat an Schnelltests anzulegen, war man in Tübingen bestens vorbereitet. Die Testsets lagen Wochen vorher bereit, es gab neun Stationen in der Innenstadt mit wöchentlich bis zu 36 000 Proben, und die örtliche Universität war von Anfang an involviert. Der zuständige Infektiologe Peter Kremsner leitet auch die Zulassungsstudie des Impfstoffs der Tübinger Firma Curevac, der im Juni auf den Markt kommen soll.
Frei von Rückschlägen war das Projekt nicht. Nach wenigen Wochen musste wegen des Andrangs die Außengastronomie wieder schließen, auch Tagestouristen von außerhalb des Landkreises durften nicht mehr teilnehmen. Im Großen und Ganzen aber hatten Palmer und die Notärztin Lisa Federle, die bereits im Vorjahr mit einer Test-Offensive in Tübinger Pflegeheimen die Infektionszahlen markant gesenkt hatte, das Gefühl, dass das Modell läuft. Federle beklagt nun, dass mit der Schließung wichtige Erkenntnisse verloren gehen. Wenn es keinen Anreiz mehr in Form offener Geschäfte gebe, „kommt doch keiner mehr zum Testen“.
Boris Palmer spricht ausdrücklich nur von einer „Unterbrechung“. Sobald es die Zahlen hergeben, will er wieder aufsperren. Tübingen wird bereit sein, auf allen Ebenen. Das Theater hatte erst am Wochenende eine Freilichtbühne geöffnet.