London – Diskretion ist in höchsten politischen Kreisen unerlässlich, aber Boris Johnson scheint nicht immer Wert darauf zu legen. Die Mobilnummer des britischen Premierministers zumindest ist offensichtlich allzu vielen Menschen vertraut. Die Oppositionspartei Labour wittert bereits einen ausgewachsenen Skandal. Textnachrichten auf inoffiziellen, vielleicht sogar unsicheren Wegen? Labour ruft laut nach einer Untersuchung von Johnsons Kommunikation, etwa mit Unternehmer James Dy- son oder dem saudi-arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman.
Für Johnsons Konservative Partei wird die Lage nicht einfacher. Sie ist ohnehin schon in mehrere Affären verstrickt: Ob der Fall des insolventen Finanzdienstleisters Greensill Capital oder undurchsichtige Auftragsvergaben an Freunde und Großspender – immer wieder stehen Minister aus Johnsons Regierung im Fokus. Labour, von der mittlerweile gut geölten Anti-Corona-Politik Johnsons ausgebremst, wittert zwei Wochen vor Dutzenden Regional- und Kommunalwahlen eine Chance zum Angriff auf Johnsons „Regierungsführung per WhatsApp“.
„Es gibt eine Regel für Leute, die die private Nummer des Premiers haben, und eine Regel für alle anderen“, schimpfte Labour-Chef Keir Starmer im Parlament. Schnell sprangen andere Abgeordnete darauf an. Ob Johnson den tausenden Stahlarbeitern, deren Jobs von der Greensill-Insolvenz bedroht ist, wohl geholfen hätte, wenn sie seine Nummer gehabt hätten? Oder den Tausenden Pflegekräften, die in der Pandemie an ihre Grenzen stoßen, aber nur ein Prozent mehr Lohn erhalten sollen? „Zwielichtige Geschäfte mit Schutzausrüstung, Steuererleichterungen für Kumpel“, rief Starmer Johnson entgegen. „Filz, Filz, Filz – und Sie sind verantwortlich!“
Kaum ein Tag vergeht in London, ohne dass neue Verwicklungen bekannt werden. Am Donnerstag etwa ist es ein Bericht von Transparency International: Für die Zeit von Februar bis November 2020 machten die Anti-Korruptionskämpfer insgesamt 73 Corona-bedingte Verträge im Gesamtwert von 3,7 Milliarden Pfund aus, bei denen sie Ansatzpunkte für Korruption oder Vetternwirtschaft sahen – das ist rund ein Fünftel aller Kontrakte. Es gebe eine „systemische Voreingenommenheit zugunsten von Personen mit Verbindungen zur Regierungspartei“.
Oft mittendrin: Gesundheitsminister Matt Hancock. Kürzlich wurde bekannt, dass Hancock an einem Unternehmen beteiligt ist, das seiner Schwester gehört – und 2019 einen Auftrag des nationalen Gesundheitsdiensts NHS erhalten hat. Nun steht Johnson selbst im Fokus. Per Textnachricht sicherte er „Staubsauger-König“ Dyson Steuererleichterungen für dessen Unternehmen bei der Produktion von Beatmungsgeräten zu: „Ich werde das in Ordnung bringen.“
Am Freitag wurde bekannt, dass der frühere Regierungsberater Dominic Cummings hinter der Veröffentlichung stecken soll. „Dominic betreibt systematisches Leaken“, sagte eine nicht genannte Quelle aus Regierungskreisen der „Times“. Cummings hatte Ende des vergangenen Jahres nach einem erbitterten Streit im engsten Beraterzirkel der Downing Street seinen Posten verlassen. Er galt als einer der engsten Vertrauten Johnsons und war ein wichtiger Stratege der „Vote Leave“-Kampagne für den Brexit. Cummings sei „verbittert darüber, was passiert ist, seit er gegangen ist“, heißt es in der „Times“. Cummings dementiert die Berichte am Freitagabend. BENEDIKT VON IMHOFF