München – Der Berliner Konsumpsychologe Dirk Ziems und sein Team erforschen die Auswirkungen der Corona-Pandemie anhand von fortlaufenden Tiefeninterviews zu verschiedenen Themenfeldern. Er sagt: Wenn es um Erleichterungen für Geimpfte geht, spielen in Deutschland auch Neidmotive eine Rolle.
Herr Ziems, Deutschland debattiert darüber, welche Einschränkungen für Geimpfte fallen sollen. Wie viel Konfliktstoff steckt in dieser Frage?
Eine Menge. Denn dahinter steht auch ein Dilemma. Eigentlich gibt es keine Begründung mehr, Geimpften weiter Bürgerrechte vorzuenthalten. Sie können sich kaum noch anstecken und kaum noch jemand anderen infizieren. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass wir im Ausklang der Pandemie in Überschwang verfallen und unvorsichtig werden. Wenn die Gesamtstimmung dahin kippt, entsteht eine gefährliche unkontrollierbare Dynamik.
Geht es denn nicht auch um Gerechtigkeit? Man kann schließlich nichts dafür, wenn man später geimpft wird.
Aus unseren Interviews wissen wir, dass die Menschen das ganz unterschiedlich sehen. Manche pochen sehr ich-zentriert auf die eigenen Rechte. Es gibt aber auch Geimpfte, die aus solidarischen Gründen keine Erleichterungen wollen. Und bei anderen wirkt tatsächlich ein Neidmotiv. Sie fühlen sich ungerecht behandelt. Gerade Jüngere beklagen, dass sie große Lockdown-Lasten tragen müssen, aber nun von den Erleichterungen für Geimpfte ausgeschlossen werden. Da sind nach einem Jahr Corona viele Reserven aufgezehrt. Aber Neidgefühle haben in der Pandemie auch vorher eine Rolle gespielt.
Wobei?
Blicken Sie auf die Wirtschaft. Als die Baumärkte öffnen durften, aber die Möbelhäuser nicht, gab es auch Neid. Das beginnt, sobald man anfängt, Ausnahmen zu machen. Psychologisch gesehen gleicht das gewissermaßen dem Geschwisterneid, wenn ein Kind mehr darf als das andere. Und mit Blick auf das Ende der Pandemie wird das noch schwerer auszuhalten.
Wieso?
Wenn wir im Geschwister-Bild bleiben, kann man es mit Weihnachten vergleichen. Das Ende der Pandemie wäre dann die Bescherung. Endlich wieder locker im Restaurant sitzen, endlich wieder reisen. Die Vorfreude ist riesig. Doch bei dieser Bescherung sollen nun manche Kinder früher ihr Geschenk auspacken dürfen als andere. Das ist ganz schwer zu vermitteln.
Besonders in Deutschland?
Das Bild des Vordränglers ist hier besonders präsent. In anderen Ländern wird das nicht so eng gesehen. Beim Impfen beispielsweise waren die Regeln in den USA weniger moralisch und bürokratisch, sondern viel pragmatischer. Da wurden begleitende Familienangehörige von Anfang an selbstverständlich direkt mitgeimpft, egal, wie alt sie waren. Niemand hat sich beschwert. Hauptsache einer mehr. In Deutschland müssen die Hausärzte dagegen stundenlang Risikogruppen hinterhertelefonieren, um niemanden zu früh zu impfen.
Ist Neid also in Deutschland verbreiteter?
Hier nehmen zumindest die Debatten oft überhand. Bei den Erleichterungen für Geimpfte geht es für die meisten ja nur um vielleicht acht Wochen, bis sie selbst geimpft sind. Bis dahin muss man eben Schnelltests machen, um dann meist das Gleiche zu dürfen. Da fragt man sich schon, ob die ganze Aufregung wirklich in Relation steht.
Ist es aus Sicht von Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht verständlich, dass sie nicht länger zurückstecken wollen, während alle Älteren um sie herum geimpft werden?
Es stimmt, dass für Schulabgänger oder Neu-Studenten ein wichtiger Lebensabschnitt durch die Pandemie beschädigt wurde. Das Abnabeln von zuhause, das neue freie Leben. Das ist eine Zeit, die sonst von Partys und vom Kennenlernen geprägt ist und an die man später gerne zurückdenkt. In diesem Fall kann man also von berechtigtem Neid sprechen. Und es wird in der kommenden Übergangszeit besonders schwierig sein, genau diese Gruppe noch bei der Stange zu halten.
Die Jugend droht auszubrechen?
Noch ist etwas Geduld da. Die Frage wird sein, wie lange sich alles noch zieht. Wenn tatsächlich bis zum Spätsommer ein Ende der Pandemie absehbar ist, kommt man vielleicht noch mit Kompromissen durch. Nach dem Motto: Besser kleine Partys als große Partys. Aber die ungeimpfte Jugend wird sich nicht lückenlos einsperren lassen.
Interview: Sebastian Horsch