MIKE SCHIER
Es ist eine positive Überraschung: So zurückhaltend Joe Biden im Wahlkampf agierte, so tatkräftig ging er seine ersten 100 Tage an. Vor allem in der Außenpolitik dreht er viele falsche Weichenstellungen seines irrlichternden Vorgängers zurück: Klimaschutz, WHO, Nato, das transatlantische Bündnis insgesamt. In Europa registrierte man all das höchst erfreut und tat – nichts. Sollte Biden nach einem Leben in der Außenpolitik tatsächlich noch gehofft haben, in seinem Ringen um westliche Werte gegenüber China oder Russland Unterstützung der Partner in der alten Welt zu bekommen, wurde er enttäuscht.
In der Pandemie scheinen Deutschland und die EU ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Angela Merkel ringt im Spätherbst ihrer Karriere mit Inzidenzwerten und aufsässigen Ministerpräsidenten. Heiko Maas agiert unterhalb jeder Wahrnehmungsschwelle. Und wer Außenbeauftragter der EU ist, würde bei „Wer wird Millionär“ eine 500 000-Euro-Frage abgeben (Lösung: Josep Borrell). Im deutschen Wahlkampf spielen außenpolitische Fragen praktisch keine Rolle. Laschet, Baerbock, Scholz – der Horizont der Debatten endet an der Landesgrenze.
Es irritiert vor allem, wie wenig sich die Öffentlichkeit hierzulande für die gigantische Herausforderung China interessiert, die man in der deutschen Außenpolitik viel zu sehr auf wirtschaftliche Aspekte reduziert. Dabei geht es im Wettstreit mit China mitnichten nur um Gewinne, Patente oder Fortschritt, sondern um ein anderes Gesellschaftsmodell, das mit westlichen Demokratien wenig gemein hat. Je offensiver China dieses an den schwächelnden Rändern der EU – ob Griechenland, Bulgarien oder Ungarn – verbreitet, desto entschiedener sollte sich Europa an Bidens Seite stellen.
Mike.Schier@ovb.net