München – Die Westminster Abbey hat eine lange und stolze Geschichte. Die Kathedrale im Zentrum von London ist fast 1000 Jahre alt und für 17 britische Monarchen die letzte Ruhestätte. Im südlichen Querschiff befindet sich die Poets’ Corner, die Dichter-Ecke, mit einem Denkmal für William Shakespeare. Seit März hat das Gebäude noch eine ganz neue Bedeutung. Es ist jetzt Impfzentrum.
Bis zu 2000 Spritzen werden hier jede Woche gesetzt. Man kenne die Kirche als einen Ort voller Menschen, sagte der Dekan David Hoyle bei der Eröffnung, „und es fühlt sich eigenartig und falsch an, wenn er leer ist“. Einer der Ersten, der sich hier impfen ließ, war Schauspieler und Schriftsteller Stephen Fry („Der Hobbit“). Nicht nur seinetwegen gab das prächtige Bilder: Die Mitarbeiter des National Health Services (NHS), die unter den imposanten Bögen der Kathedrale die Injektion verabreichten.
Die Macht der Bilder spielt in der Impfstrategie eines Landes eine große Rolle. Es macht einen Unterschied, ob man seine Spritze an historischer Stätte erhält oder in der sterilen Kühle des kommunalen Anbieters. Westminster, „das ist ein viel passenderes Bild als die uniformen Impfzentren, mit denen keine emotionale Attraktivität verbunden ist“, sagt Professorin Marion G. Müller, die an der Universität Trier in visueller und politischer Kommunikation forscht. „Generell wird der Ort der Impfung in seiner Relevanz unterschätzt. Wie sehr will ich da jetzt hin?“
Gerade hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder angeregt, auch in Deutschland die Impfangebote massiv auszuweiten. Er nannte Supermärkte und Apotheken. Andere Länder sind da wesentlich weiter. Nicht nur die Briten, die ihre NHS-Mitarbeiter auch in die Kathedrale von Salisbury geschickt haben und in die berühmteste Cricket-Arena der Welt, Lord’s. In den USA wurden Baseballstadien umfunktioniert, vom Fenway Park der Boston Red Sox bis zur Heimat der Los Angeles Dodgers, außerdem die Formel-1-Strecke im texanischen Austin. In Brasilien erhalten Menschen ihre Spritze zu Füßen der Christus-Statue auf dem Corcovado.
Es sind zunächst mal ganz praktische Gründe, die für viele dieser Orte sprechen. Sportarenen sind dafür gebaut, unzählige Menschen aufzunehmen, ihre Laufwege zu kontrollieren und sie notfalls voneinander fern zu halten. Was sie in der Pandemie aber besonders auszeichnet, ist ihr emotionaler Mehrwert. Gläubige steuern leichter eine Kirche an, Sportfans ein Stadion. Im Naturkundemuseum in New York hat man nach der Impfung freien Eintritt.
„Wenn man interessante Lokalitäten wählt, kann man Leute gewinnen, die noch zögern“, sagt Müller. „Die fühlen sich da aufgehoben, nicht nur abgeimpft. Da muss es schon ein bisschen was für die Seele geben.“ So gesehen ist Westminster Abbey ein regelrechter Geniestreich. Die Kathedrale als Kulisse lässt das Projekt Corona-Impfung buchstäblich großartig erscheinen. Beinahe erhaben.
Marion G. Müller war überrascht, als sie von der Supermarkt-Offensive des Ministerpräsienten hörte: „Von Herrn Söder hätte ich einen ausgefalleneren Vorschlag erwartet.“ Ihr wären attraktivere Möglichkeiten eingefallen. „Orte, an die die Menschen gerne gehen. Der wunderbare Bootssteg am Starnberger See, die Wiesn, auch ohne Gaudi, sowas.“ Oder, ein paar Nummern größer: „Warum nicht das Stadion von Bayern München?“
In seinem praktischen Nutzen aber hat auch so ein Einkaufsparadies Vorteile. Wenn die Leute eh schon da sind, können sie sich auch gleich impfen lassen. Schokolade, Zahnpasta, Biontech. Das Ausland zeigt, wie unermesslich die Möglichkeiten sind, wenn man die Hemmschwelle niedrig hält und Phantasie hat. In Israel bekam man die Spritzen in Strandbars und Ikea-Filialen, in den USA werden als Anreiz Donuts und Freibier ausgelobt. In New York gab es sogar einen Joint.
Deutschland also will jetzt, da endlich mehr Impfstoff bereit steht, ein paar Nummern kleiner anfangen. In Supermärkten und Apotheken, was nicht ganz so kreativ ist, aber der Sache ebenfalls dient. Und wer weiß, vielleicht kann man die Leute noch etwas locken. Professor Müller hätte schon eine Idee für die Kundenansprache: „Denken Sie an Ihren Impfausweis – und an Ihre Payback-Karte!“