Rom/Berlin/Tunis – Sie kommen mit einem Rucksack oder einer Plastiktüte in der Hand in Lampedusa an. Sie klettern aus überfüllten Schlauchbooten und Holzbarken, sie werden auf See von italienischen Patrouillenschiffen an Bord geholt. Mehrere hundert Bootsmigranten mussten Anfang dieser Woche ihre erste Nacht in Europa im Freien auf der Hafenmole der kleinen Insel schlafen. Über 2100 Männer, Frauen und Kinder waren in nur 24 Stunden eingetroffen. Aufnahme der Daten, Corona-Tests, Transport in ein Auffanglager, auf Quarantäneschiffe oder nach Sizilien: Die Behörden dort sind durchaus geübt – aber diesmal ist der Andrang einfach zu groß.
Am Pier von Favaloro herrscht eine bedrückende Stille. Ein junger Somali von vielleicht 19 oder 20 Jahren kann sich zwar nicht verständlich machen, zeigt den Freiwilligen aber immer wieder die Narben auf seinem Rücken. Und dann flüstert er: „Libyen“. Und das Jahr: „2017“. Marta Bernardini von „Mediterranean Hope“ erklärt: „Wir haben herausgefunden, dass er in einem Gefangenenlager schwer gefoltert worden ist.“
So wie Kalifa, eine junge Somalierin, die von den Helfern in die Poliklinik gebracht wurde. „Sie konnte nicht gehen“, erklärt Helferin Elisa Biason. „Sie hat erzählt, dass sie gemeinsam mit ihrer Schwester von zu Hause wegging. An der Grenze zu Libyen wurden sie entführt. Und dann begann auch für sie die Tortur im Gefangenenlager: Sie wurde geschlagen und gefoltert. Dabei hat der Gefangenenwärter alles gefilmt, um die Familien dazu zu bringen, sie freizukaufen. Ihre Schwester starb, sie hat man schließlich auf der Straße ausgesetzt.“
In Italien insgesamt haben sich die Migranten-Ankünfte 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verdreifacht – auf rund 13 000 bis Wochenbeginn. Auch wenn diese Werte bei Weitem nicht vergleichbar sind mit den noch höheren aus der Flüchtlingskrise um 2015/16, klangen die Alarmrufe dramatisch. Das Wetter ist im Mai schön, das Meer ruhiger – und die Corona-Lage in Europa bessert sich. Da wagen wieder mehr Schutzsuchende die gefährliche Überfahrt.
„Der Zustrom hat sich verändert, ich habe das seit Wochen weitergemeldet“, klagte der Bürgermeister Lampedusas, Totò Martello, in der Zeitung „La Repubblica“. Lange seien es kleine Boote mit 15 bis 20 Personen aus dem nahen Tunesien gewesen. Jetzt würden aus Libyen zweistöckige Fischerboote starten mit 200 oder 300 Passagieren an Bord. Die Regierung in Rom müsse die Sache in die Hand nehmen. „Das ist eine politische Frage.“ Die Regierung Mario Draghis in Rom versucht seit Wochen, die Behörden in Tunesien und Libyen zu strengeren Kontrollen zu bewegen. Im Bürgerkriegsland Libyen geht es auch um die Einhaltung der Menschenrechte. Noch im Mai will Rom in der EU auf eine verstärkte Übernahme von Menschen dringen. Doch ob die Appelle fruchten?
Dabei sah es schon mal danach aus, als würden sich zumindest einige EU-Staaten zusammenraufen: Im September 2019 einigten sich Malta, Italien, Deutschland und Frankreich auf eine Übergangslösung. Darauf ließ sich jedoch nicht aufbauen. Neben Deutschland und Frankreich beteiligten sich andere nur selten an der Aufnahme von Bootsmigranten. Die EU-Kommission betont, die Seenotrettung sei nationale Kompetenz. Trotzdem dringt die schwedische EU-Innenkommissarin Ylva Johansson auf mehr Zusammenarbeit. Eine nachhaltige Lösung wäre für sie, wenn es auf EU-Ebene nach jahrelangem Streit endlich eine Einigung auf eine Asylreform gäbe. Danach sieht es allerdings nicht aus.