Jerusalem/Gaza – Trotz internationaler Appelle ist im Nahen Osten keine Deeskalation in Sicht: Während der wechselseitige Raketenbeschuss zwischen militanten Palästinensern aus dem Gazastreifen und der israelischen Armee auch gestern weiterging, mehrten sich die Warnungen vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen in israelischen Städten. Wegen der schweren Unruhen zwischen jüdischen und arabischen Israelis kündigte Verteidigungsminister Benny Gantz eine „massive Verstärkung“ der Sicherheitskräfte im ganzen Land an.
Reservisten der Grenzpolizei würden in israelische Städte geschickt, um die Gewalt einzudämmen und „Recht und Ordnung durchzusetzen“, erklärte Gantz. Zuvor hatte die Polizei erneute gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis gemeldet. „Die Gewalt innerhalb Israels hat ein Ausmaß erreicht, wie man es seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat“, sagte Polizeisprecher Micky Rosenfeld. Polizeibeamte verhinderten „buchstäblich, dass Pogrome stattfinden“, fügte er hinzu.
In der arabisch-israelischen Stadt Kfar Kassem im Zentrum Israels verbrannten Rosenfeld zufolge hunderte Demonstranten Autoreifen und zündeten Polizeiautos an. Fast tausend Grenzpolizisten wurden demnach zur Verstärkung herbeigerufen, mehr als 400 Menschen wurden festgenommen.
Zuvor hatte es in mehreren israelischen Städten Zusammenstöße zwischen ultranationalistischen Juden und arabischen Israelis sowie der Polizei gegeben. In Bat Yam im Süden von Tel Aviv prügelte eine Menge einen mutmaßlich arabischen Mann bewusstlos. Im zentralisraelischen Lod galt derweil weiter der Notstand, nachdem dort am Montag ein arabischer Israeli erschossen und eine Synagoge in Brand gesteckt worden waren.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bezeichnete die Gewalt in israelischen Städten als „inakzeptabel“. Nichts rechtfertige „das Lynchen von Arabern durch Juden und nichts rechtfertigt das Lynchen von Juden durch Araber“. Der arabische Abgeordnete Issawi Fredj von der Meretz-Partei warnte angesichts der Gewalt vor einem „Bürgerkrieg“ in Israel.
Auch international wächst angesichts des andauernden Raketenbeschusses auf Israel aus dem Gazastreifen und der israelischen Vergeltungsschläge die Angst vor einem erneuten Krieg im Nahen Osten. Bereits zweimal binnen einer Woche traf sich wegen der Eskalation der UN-Sicherheitsrat zu Dringlichkeitssitzungen. Dabei konnten sich die Ratsmitglieder nicht auf eine gemeinsame Erklärung einigen. Eine weitere, für diesen Freitag geplante Sitzung, an der auch Israel und die Palästinenser teilnehmen sollten, wurde abgesagt.
US-Präsident Joe Biden äußerte in einem Telefonat mit Netanjahu die Hoffnung auf ein rasches Ende der Gewalt. „Meine Erwartung und meine Hoffnung ist, dass das eher früher als später endet“, sagte er. Zugleich bekräftigte Biden Israels Recht auf Selbstverteidigung. US-Außenminister Antony Blinken forderte in einem Telefonat mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas ein Ende des Raketenbeschusses aus dem Gazastreifen. Durch diesen habe die Hamas „zumindest die jüngste Eskalation“ mutwillig herbeigeführt, sagte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) gegenüber „Bild“.
Gestern feuerte die radikal-islamische Hamas eine schwere Rakete auf den israelischen Flughafen Ramon nahe dem Ferienort Eilat am Roten Meer ab. Ein Sprecher des bewaffneten Arms der Hamas forderte die Einstellung „aller Flüge internationaler Fluggesellschaften an alle Flughäfen“ in Israel. Zuvor hatten Israels Behörden wegen des Beschusses sämtliche Passagierflüge, die am Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv landen sollten, nach Eilat umgeleitet.
Am Abend verlegte die israelische Armee zusätzliche Truppen an die Grenze des Gazastreifens. Erstmals flogen auch Raketen aus dem Libanon, wo die pro-iranische Hisbollah-Miliz aktiv ist, in Richtung Israel. Die Raketen landeten im Meer. Wer sie abfeuerte, war zunächst unklar.