Drohte wirklich der Intensiv-Kollaps?

von Redaktion

VON SEBASTIAN HORSCH

München – Das italienische Bergamo steht für eine besonders feine Polenta – und seit gut einem Jahr auch für den Tod. Allein im März 2020 starben in der 120 000-Einwohner-Stadt in der Lombardei fast 700 Menschen an den Folgen des Coronavirus. Die Bilder von Armeefahrzeugen, die damals dutzende Särge aus der Stadt fuhren, gingen um die Welt. Seither ist Bergamo auch in Deutschland zum Synonym für überforderte Intensivstationen geworden. Zum ständig drohenden schlimmsten Fall, den es unbedingt zu vermeiden gilt – notfalls auch mit zig Milliarden an Steuergeld, Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen. Doch wie realistisch drohte dieses Szenario hierzulande wirklich?

Eine Frage, die auch in der Fachwelt umstritten ist. Denn während lange vorsichtige Stimmen wie der SPD-Politiker Karl Lauterbach öffentlich den Ton angaben, wird mit sinkenden Corona-Zahlen zunehmend Kritik an deren Warnungen laut. „Die Angst vor knappen Intensivkapazitäten oder der Triage war unbegründet“, sagt nun Gesundheitsökonom Matthias Schrappe in einem Interview mit der „Welt“. Und das sei vielen Entscheidern auch bewusst gewesen. Zwar sei es tatsächlich zu Engpässen in einigen Kliniken gekommen, „weil die Covid-Patienten nicht gleichmäßig verteilt worden waren über die Krankenhäuser“. Die Frage sei aber, ob die „Drohung“ begründet gewesen sei, „wonach es jedem blühen könnte, zu Hause oder vor der Notaufnahme zu ersticken, wenn wir nicht gegensteuern?“

Schrappe, ehemals stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats Gesundheit, hat dazu gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlern ein Papier verfasst, das seine These stützt. Dessen – umstrittener – Inhalt wirft nicht nur ein kritisches Licht auf die eindringlichen Warnungen von Bundesregierung und vielen Experten. Die Autoren kommen auch zu dem Schluss, dass in keinem anderen Land im Vergleich zur Melderate so viele Infizierte intensivmedizinisch behandelt worden seien wie in Deutschland. „Es gab in den Krankenhäusern offensichtlich die Tendenz, Patienten ohne Not auf die Intensivstation zu verlegen“, sagt Schrappe dazu der „Welt“. Ohne es ausdrücklich zu behaupten, deutet er an, das könne daran liegen, dass ein Intensivbett den Kliniken mehr Erlös bringe als ein normales Bett. Zudem hätten die Krankenhäuser Geld für zusätzliche Notfall-Kapazitäten erhalten, die nie wirklich aufgebaut worden seien.

„Die Sorge zu Beginn der Pandemie, die Intensivkapazitäten könnten knapp werden, war begründet“, sagt hingegen der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, unserer Zeitung. „Wer an die Situation im März vergangenen Jahres in Italien zurückdenkt, weiß, dass die Bedrohung damals sehr real war.“ Auch danach habe es immer wieder Situationen gegeben, in denen „einzelne Krankenhäuser oder ganze Regionen vor hohen Herausforderungen und unter extremer Belastung“ gestanden hätten. „Wir hatten bis zu 6000 Covid-Patienten auf Intensivstationen“, sagt Gaß. Um das zu bewältigen, habe man „die Regelversorgung deutlich herunterfahren müssen“.

Dass vom Staat geförderte Notfallkapazitäten nicht gebraucht wurden, sei auch kein Widerspruch. Zu Beginn der ersten Welle habe es die klare Aufforderung gegeben, zusätzliche Betten zu schaffen. „Es war klar, dass diese Betten nicht im Normalfall zusätzlich betrieben werden sollen“, sagt Gaß. Man habe unbedingt vermeiden wollen, dass Patienten im schlimmsten Fall abgewiesen werden müssen. „Und dazu ist es zum Glück auch nicht gekommen.“

Auch der Vorwurf, es seien Patienten ohne Not auf die Intensivstation verlegt worden, sei haltlos. Im Gegenteil: Aufgrund der höheren Kapazitäten sei Deutschland in der Lage gewesen, alle schwerkranken Patienten adäquat zu behandeln, sagt Gaß. „In anderen Ländern war das über viele Wochen nicht möglich, weil dort keine Betten mehr frei waren.“ Es sei also durchaus wahrscheinlich, „dass wir genau dadurch mehr Menschen retten konnten“.

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