Brennende Flaggen, antijüdische Parolen, tätliche Angriffe. Die jüngsten Vorfälle bei Protesten in Deutschland werfen ein Licht auf Judenhass unter Muslimen. Ein Gespräch dazu mit der Leiterin der „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern“ (RIAS), Annette Seidel-Arpacı.
Frau Seidel-Arpacı, lässt sich klar sagen, wer hinter den antisemitischen Übergriffen steckt?
Was sich sagen lässt ist, dass auf fast allen der von uns dokumentierten Demonstrationen in Bayern der Islam eine Rolle spielt. In Nürnberg ist am 14. Mai zum Beispiel ein Sprecher aus dem Umfeld eines schiitischen Vereins aufgetreten, der in der Woche zuvor bei einer al-Quds-Kundgebung [anti-israelischer Protesttag am Ende des Ramadan, d. Red.] gesprochen hatte. Die Versammlung war insgesamt stark islamisch geprägt. es kam auch zu mehrere Allahu-Akbar-Rufen. Auch aus einem Teil des linken, israelfeindlichen Spektrums gibt es Unterstützung.
Überrascht Sie diese Mischung?
Überhaupt nicht. Die alte antiimperialistische Linke arbeitet seit Jahrzehnten auch mit Islamisten und arabischen Terrororganisationen zusammen, gerade wenn es gegen Israel geht. Hinzu kommt die neuere Version von Linken, die Israel als Apartheidsstaat bezeichnen und sich aus vorgeblich antirassistischen, jedoch antisemitischen Motiven den Protesten anschließt.
Polizeistatistiken sagen sehr klar, dass die meisten antisemitischen Straftaten von rechts kommen…
Oft ist es nicht so leicht, den politischen Hintergrund zu bestimmen. Wir bei RIAS können etwa die Hälfte der antisemitischen Vorfälle, die uns gemeldet werden, politisch-weltanschaulich nicht zuordnen. Die Polizeistatistiken führen manche dieser unklaren Fälle dagegen als rechts motiviert auf. Dazu muss man sagen, dass RIAS Vorfälle unabhängig davon dokumentiert, ob sie strafrechtlich relevant sind.
Also sind die Statistiken verzerrt?
Ein Stück weit schon. Würde bei einem der jetzigen Proteste etwa der Hitlergruß gezeigt, würde das polizeilich womöglich als rechtsradikal eingeordnet. Anderes Beispiel: Im Moment schließen sich auch Mitglieder der türkischen Grauen Wölfe den Protesten an, also einer rechtsextremen Organisation, organisiert in den sogenannten Idealisten-Vereinen mit mindestens 18 000 Mitgliedern. In welche Kategorie fallen die? Die Zuordnung ist durchaus ein Problem.
Manche sagen, anders als der völkische sei der muslimische Antisemitismus durch den Nahost-Konflikt vor allem politisch motiviert. Sehen Sie das auch so?
Nein. In beiden Fällen gibt es einen Auslöschungs-Wunsch gegen die Juden. Außerdem liegt in der Unterscheidung ja schon eine Art Rechtfertigung nach dem Motto: Den islamischen, israelfeindlichen Antisemitismus müsse man irgendwie verstehen, weil er aus einer Unterdrückungssituation entstehe. Das übersieht, dass es auch vor der israelischen Staatsgründung 1948 islamisch legitimierten Antisemitismus gab.
Mal konkret: Wie groß ist der Anteil des islamischen Antisemitismus in Bayern?
Unser Jahresbericht für 2020 führt sehr wenige Fälle auf, das kann sich aber ändern, wenn wir uns die momentane Lage ansehen. Dass der Anteil in Bayern so gering ist, liegt womöglich auch daran, dass es weniger Meldungen aus einem organisierten islamischen Umfeld gibt als aus anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Aus der Union heißt es, wir hätten diesen Antisemitismus durch falsche Zuwanderungspolitik importiert.
So ist das zu einfach. Man muss sich natürlich klar darüber sein, dass jemand aus Syrien mit antisemitischer Propaganda aufgewachsen und insofern geprägt ist. Aber an den Demonstrationen nehmen beispielsweise auch türkischstämmige Deutsche Teil, die hier geboren sind.
Haben wir als Gesellschaft das Problem des muslimischen Antisemitismus zu lange ignoriert?
Sicher, auch jetzt noch. Es gibt eine Furcht vor Beifall von der falschen Seite, die nachvollziehbar ist. Schließlich ist Antisemitismus hier niemals weg gewesen. Aber Verschweigen hilft niemandem, im Gegenteil. Juden fühlen sich bedrängt, bedroht und leider auch nicht ausreichend geschützt. Jüdische Gemeinden erhalten Unmengen von Droh- und Hassnachrichten, Menschen, die sich solidarisch zeigen, werden beschimpft. Das ist doch unerträglich, oder? mmä