Kampf um mehr Selbstbestimmung

von Redaktion

VON MARC BEYER

München – Zuhause auf dem Rechner hat sie ganze Dateiordner, in denen Beleidigungen und unsachliche Kritik gespeichert sind. Und einmal, sagt Eva Engelken, sei ihr mit einem Parteiausschlussverfahren gedroht worden, weil sie einen Änderungsantrag eingebracht hatte. Es mögen harmonische Zeiten sein bei den Grünen, aber ganz frei von Streit sind sie auch jetzt im Umfragehoch nicht.

Die Mönchengladbacher Juristin Engelken hadert mit ihrer Partei. Die Vorbehalte richten sich gegen einen Gesetzentwurf, der heute in zweiter und dritter Lesung im Bundestag besprochen wird, ebenso wie ein fast deckungsgleicher Text der FDP. Das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz sieht vor, dass künftig eine Erklärung beim Standesamt ausreichen soll, um den Geschlechtseintrag zu ändern. Und das ab einem Alter von 14 Jahren.

Selbst wenn der Entwurf nicht durchgehen wird, hat das Thema Brisanz. Es geht um nicht weniger als eine Neudefinition des Begriffs „Geschlecht“. Während er bisher auf biologischen und körperlichen Merkmalen beruht, soll künftig einzig die „Geschlechtsidentität“ entscheiden, das subjektive Gefühl der Zugehörigkeit. Gerade für Konservative ist dieser Ansatz schwer zu verdauen. Was Engelken daran stört, ist nicht nur der Inhalt, sondern auch die Art, wie die Partei ihn forciert: „Eine Debatte wird komplett unterbunden.“

Dabei zeigt sich die Tragweite auf den zweiten Blick. Eine unkomplizierte Änderung des Geschlechtseintrags könnte Männern Rechte zugestehen, die aus gutem Grund für Frauen gedacht waren, von Gleichstellungsregeln bis zu Quoten. Es gibt sogar Berichte aus den USA und Großbritannien, wo männliche Straftäter sich zur Frau erklärten, in ein Frauengefängnis eingewiesen wurden und weitere Straftaten begingen.

Dass Handlungsbedarf beim Umgang mit Transsexuellen besteht, ist über Parteigrenzen hinweg unstrittig. Das bisherige Gesetz stammt von 1981 und sieht für eine Geschlechtsanpassung einen langen, oft als demütigend empfundenen Weg vor. Auch die Union hat an einem Entwurf gearbeitet, ihn aber zurückgezogen. Die grünen und liberalen Texte sehen nun eine radikale Verkürzung vor, die auch dazu führt, dass bereits Jugendliche entscheiden können. Notfalls gegen den Willen ihrer Eltern.

Dass man mit 14 bereits in der Lage ist, die Konsequenzen seines Handelns abzusehen, bezweifelt Alexander Korte sehr. Der Kinder- und Jugendpsychiater der Münchner LMU, der für den Bundestag als Sachverständiger die Gesetzentwürfe begutachtet hat, hat massive Vorbehalte. Gerade bei der psycho-sexuellen Entwicklung sei erwiesen, „dass ein Jugendlicher aufgrund der Irrungen und Wirrungen der Pubertät in nicht wenigen Punkten doch noch seine Meinung ändern kann. Diesen Entwicklungsprozess muss man abwarten.“

Korte berichtet von Studien, wonach eine frühe Gabe von Pubertätsblockern eine zentrale Bedeutung hat. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit folgt in einem zweiten Schritt die Einnahme gegengeschlechtlicher Hormone. Ohne Blockade sei das Ergebnis oft ein anderes: „Sie söhnen sich aus mit ihrem biologischen Geschlecht. In vielen Fällen kommen Betroffene zu einem homosexuellen Coming-out.“ Er plädiert deshalb dafür, „die Volljährigkeit abzuwarten“.

Noch deutlicher wird die transsexuelle Ärztin Renate Försterling. Die Berliner Sexualmedizinerin attestiert FDP und Grünen gute Absichten, aber auch „völlige Ahnungslosigkeit“ von Entwicklungspsychologie und der Bedeutung der Pubertät. Sie erinnert daran, wie bei den Grünen in den 80er-Jahren die sexuelle Autonomie von Kindern im Zusammenhang mit Pädophilie interpretiert wurde: „Dieser politischen Fehleinschätzung damals lag eine ähnliche Erwachsenenprojektion zugrunde.“

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