Regieren im endlosen Ausnahmezustand

von Redaktion

Halbzeit in der Koalition: Wie Söder und Aiwanger auf eine atemlose Zeit zurückblicken

München – Vor zweieinhalb Jahren klang das alles leicht und spaßig. Wie man diese Koalition aus Schwarzen und Orangen nun nennen solle, witzelten Politiker und Journalisten. „Spezi“-Bündnis? Klingt zu klebrig und braun. „Papaya“-Formation? Nein, die Frucht ist außen zu grün. Oder „Tiger“-Koalition, orange mit schwarzen Streifen? Kurz gesagt: In der Zwischenzeit ist allen Seiten das Scherzen gründlich vergangen.

Zur Halbzeit, am Dienstag offiziell am Rande einer Kabinettssitzung begangen, blicken CSU und Freie Wähler nicht auf Farbenspielchen zurück – sondern auf Entscheidungen über Leben und Tod. „Wir sind eingeholt worden von großen Entwicklungen“, sagt Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Irgendein bemitleidenswerter Mitarbeiter wurde beauftragt, zu zählen, wie viel Prozent des Koalitionsvertrags bereits abgearbeitet (angeblich 60) oder angepackt (angeblich 35) sind. Das mag stimmen oder auch zurechtgerechnet worden sein – in Wahrheit ist seit Februar 2020 der Koalitionsvertrag eh Nebensache. Dem Kampf gegen Corona wurde alles untergeordnet, inklusive neuer Milliardenschulden.

Für Söder und seinen Vize-Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger heißt das: Regieren im permanenten Ausnahmezustand. Und ein 15-monatiger Stresstest für die Koalition. CSU und Freie Wähler mögen zwar beide im Kern bürgerlich sein. Bei Corona verfolgte die Aiwanger-Partei aber einen viel stärkeren Öffnungskurs. Söder in seinen Vorsicht-Mahnungen und schnellen Schließungen war den Grünen näher als seinem Partner Aiwanger. Übrigens auch beim Artenschutz-Volksbegehren, dessen komplette Übernahme Söder Anfang 2019 durchboxte.

Zum offenen Eklat oder sogar zum Bruch kam es nie – aber zweimal standen Minister auf der Kippe. Schulminister Michael Piazolo (FW) bekam erst Anfang 2021 den Fernunterricht in den Griff. Die CSU brauchte einen Wechsel im Gesundheitsressort, um mit Klaus Holetschek die Corona-Praxis unter Kontrolle zu kriegen. Die verbalen Scharmützel zwischen dem rhetorisch brutalen und schlagfertigeren Söder mit Aiwanger wirken da banal. Oder sogar komisch: Kaum zwei Wochen im Amt, brüstete sich Aiwanger, wie er Söder „die Beine lang macht“.

Länger als die Beine: der Geduldsfaden. Die CSU thematisiert Aiwangers umstrittene Einkäufe in der ersten Pandemiewelle (Wischmops und Co) nicht. Die Freien Wähler lästern über die Masken- und Raffke-Affären des Partners höchstens halblaut. „Inhaltlich wie menschlich ein exzellentes Zusammenarbeiten“, flötet Söder. Auch er weiß: Das kann sich ändern in den nächsten vier Monaten des Bundestagswahlkampfs. Aiwanger ist da ja FW-Spitzenkandidat.

Die Opposition schießt sich in ihrer Zwischenbilanz vor allem auf Söder ein. Ende 2018 hatte Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann nach Lektüre des Koalitionsvertrags noch gespottet, das Abkommen sei „schwarz wie Teer“. Jetzt sagt er: „Beim Wettrennen um die schnellste Überschrift geht die erste Halbzeit an Markus Söder.“ Beim Wettstreit um die wirkungsvollsten Konzepte lägen die Grünen als größte Oppositionsfraktion vorn.

Auch die FDP greift zur Halbzeit („dürftige Bilanz“) vor allem Söder an. Er habe Bayern zur „Bühne für seine Inszenierungen“ gemacht, sagt Fraktionschef Martin Hagen. „Jetzt, da er mit seinen Kanzler-Ambitionen gescheitert ist, muss der Fokus endlich wieder auf der Landespolitik liegen, seriös und nachhaltig, keine PR-Gags.“

CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER

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