Lukaschenkos „Piratenakt“

von Redaktion

VON U. MAUDER, B. VON IMHOFF und A. ANGELOPOULO

Minsk/Vilnius – Für den 26 Jahre alten belarussischen Oppositionellen Roman Protassewitsch endet sein Heimflug von einem Griechenland-Aufenthalt in einem Albtraum. Kurz vor der Luftgrenze zum EU-Land Litauen, wo der Flug mit der Nummer FR4978 gegen 13.00 Uhr in der Hauptstadt Vilnius landen soll, dreht das Ryanair-Flugzeug mit mehr als 100 Passagieren plötzlich ab. Die Piloten begleitet bis zur Landung in der weit entfernten belarussischen Hauptstadt Minsk ein Kampfjet des Typs MiG-29.

Ein Alarm über eine angeblich an Bord versteckte Bombe habe Manöver nötig gemacht, berichtet das Staatsfernsehen in Belarus. Alexander Lukaschenko selbst habe den Befehl gegeben, die Maschine landen zu lassen. Was die Staatspropaganda des Machthabers als einen Akt der Rettung der Passagiere bejubelt, entpuppt sich nach breiter Einschätzung als eine beispiellose Geheimdienstoperation zur Festnahme eines Regimegegners.

Protassewitsch drohen in Belarus viele Jahre Gefängnis – unter anderem, weil er die Massenproteste gegen Lukaschenko im vergangenen Jahr nach der umstrittenen Präsidentenwahl maßgeblich mit gesteuert haben soll. Protassewitsch ist Mitbegründer des oppositionellen Portals Nexta (gesprochen: Nechta), das in Warschau operiert. Er ist auch Chefredakteur des politischen, besonders Lukaschenko-kritischen Telegram-Kanals @belamova.

Der als „letzter Diktator Europas“ verschriene Machthaber regiert die Ex-Sowjetrepublik seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit harter Hand. Mehr als 400 politische Gefangene gibt es in Belarus. Protassewitsch wird in dem für seine Folterattacken berüchtigten Untersuchungsgefängnis Okrestina in Minsk vermutet.

„Er legte die Hände über den Kopf, als wüsste er, dass etwas Schlimmes passieren würde“, gibt der mitreisende Grieche Nikos Petalis per Videoschalte aus Vilnius zu Protokoll – mehr als acht Stunden nach der ursprünglich geplanten Landung. Protassewitsch habe sofort verstanden, dass die Notlandung ihm gilt.

Ein anderer Passagier erzählt, dass er seiner Begleiterin eine Tasche übergeben habe – vermutlich mit Dokumenten und einem Computer. Doch auch die Studentin wird festgenommen. Von beiden fehlt nach der Festnahme zunächst offiziell jede Spur – die öffentliche Aufmerksamkeit gilt eher der erzwungenen Landung.

Videos von Passagieren zeigen, wie an der Parkposition des Flugzeugs Taschen und Tüten verstreut liegen und Spürhunde die Gepäckstücke beschnüffeln. Eine Bombe finden sie nicht. Aber den Gegner Lukaschenkos, der seine Weiterreise ins Exil nach Litauen nicht antreten darf. Protassewitsch hat enge Verbindungen zu Swetlana Tichanowskaja, die die Opposition als eigentliche Siegerin der Präsidentenwahl vom 9. August sieht. Auch sie hat den Flug von Athen nach Vilnius, wo sie lebt, schon genommen, wie sie sagt.

Das Entsetzen darüber, dass ein Flug zwischen zwei EU-Hauptstädten – Athen und Vilnius – von einer autokratischen Staatsmacht „gekapert“ wird, ist international groß. Ryanair-Chef Michael O’Leary spricht von einem „Fall von staatlich unterstützter Entführung, (…) staatlich unterstützter Piraterie“. Er vermutet, dass auch Agenten des belarussischen Geheimdienstes KGB an Bord gewesen sind. Protassewitsch selbst hat sich nach Angaben seiner Redaktion schon in Athen vor dem Einstieg ins Flugzeug verfolgt gefühlt.

Am Montag bestätigt dann zunächst der russische Außenminister Sergej Lawrow, eine russische Staatsbürgerin, eine „Bekannte“ von Protassewitsch, sei festgenommen worden. Am Abend verkündet dann die Regierung in Minsk die Verhaftung Protassewitschs. Es taucht ein Video auf, in dem er sagt, er sei in Untersuchungshaft und gestehe, Massenunruhen in Minsk organisiert zu haben. Nach Einschätzung der Opposition kam das Video unter Druck zustande. Sein Gesicht zeige Spuren von Schlägen und sei geschminkt, die Nase sei gebrochen.

Gestern gab es auch einen Vorfall mit einer Lufthansa-Maschine. Wegen eines Warnhinweises wurde das Boarding für Flug LH 1487 von Minsk nach Frankfurt unterbrochen und erst nach erneuten Sicherheitskontrollen beendet. Die Airline kündigte an, im belarussischen Luftraum vorerst nicht mehr zu operieren.

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