Wien – Der Ton ist mehr als rau. Fernab der Kameras sei Österreichs Kanzler Sebastian Kurz ein Mann „ohne Anstand, ohne Respekt und ohne Moral“, sagt der Abgeordnete Jan Krainer von der oppositionellen SPÖ im Nationalrat. Der Kritisierte kontert, es gehe in der Debattenkultur seit einigen Monaten nicht mehr um den Wettbewerb der besten Ideen. „Es geht absolut und ausschließlich darum, andere zu diffamieren, zu beschädigen und irgendwie zu vernichten.“
Die jüngste Parlamentswoche hat gezeigt, dass das innenpolitische Klima in Österreich belastet ist wie selten. Der Grund: Der Ibiza-Untersuchungsausschuss und seine Folgen. Mit der ersten Arbeitssitzung vor rund einem Jahr begann ein Prozess, der nun auch den Kanzler in Bedrängnis gebracht hat. In wenigen Monaten wird sich entscheiden, ob die Staatsanwaltschaft ihn wegen des Verdachts der Falschaussage im Ausschuss anklagen wird.
Die Konsequenzen im Fall einer Anklage? Eine Regierungskrise scheint sicher, Neuwahlen sind nicht ausgeschlossen. Laut einer Umfrage gehen drei von vier Österreichern davon aus, dass die Koalition aus konservativer ÖVP und Grünen früher oder später zerbricht. „Da ist Vertrauen verloren gegangen“, sagt die Meinungsforscherin Sophie Karmasin. Ohne Pandemie wäre der Ruf nach Neuwahlen noch lauter als jetzt. Kurz (34), der sich eigentlich von der Freude über zahlreiche Corona-Lockerungen in Österreich tragen lassen will, wirkt angreifbar.
Der Verdacht: Er soll seinen Einfluss bei der Bestellung eines Vertrauten auf den Chefposten bei der Staatsholding ÖBAG mit Industrie-Beteiligungen im Wert von 27 Milliarden Euro heruntergespielt haben. Aus Sicht der Opposition hat er aber in Wahrheit die Strippen gezogen und somit ein Beispiel geliefert, wie zu Zeiten der ÖVP-FPÖ-Regierung von Dezember 2017 bis Mai 2019 versucht wurde, ein Netzwerk zu installieren. Das sollen Chatprotokolle belegen.
Aktuell liegen Kurz und seine ÖVP trotz aller Kritik in Umfragen weit vorne. Aber die Ermittlungen sind für ihn unangenehm. Eine Anklage würde die Lage extrem zuspitzen. „Regierungsbank und Anklagebank, das passt nicht zusammen“, meint die Opposition. Kurz selbst hat klargemacht, dass er im Fall eines Strafverfahrens nicht an einen Rückzug denke.
Bislang hatte er in diesem Punkt den größten Teil der Bürger hinter sich, doch die Stimmung im Land scheint zu kippen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup sprechen sich mittlerweile 58 Prozent der Befragten dafür aus, dass Kurz im Falle einer Anklage als Kanzler zurücktritt. Es ist das erste Mal, dass eine Mehrheit einen solchen Schritt begrüßen würde. Noch vergangene Woche lag der Wert in einer ähnlichen Erhebung bei 47 Prozent.
Eine Schlüsselrolle spielen die Grünen als Koalitionspartner der ÖVP. „Saubere Umwelt, saubere Politik“, ihr Credo stünde im Fall einer Anklage auf dem Prüfstand. Bisher spielen sie auf Zeit und halten sich weitgehend bedeckt. Koalitionstreue hätte in diesem Fall einen hohen Preis bei der Zustimmung der grünen Wählerklientel, sind sich Polit-Analysten einig.
Kurz hätte bei einer Anklage nach Einschätzung von Juristen gute Chancen, einer Verurteilung zu entgehen. Dazu müsste man dem Regierungschef eine vorsätzliche Falschaussage beweisen. Er selbst sieht etwaige Unstimmigkeiten durch Suggestivfragen und Wortklaubereien begünstigt und keinesfalls absichtlich.
Unterdessen ist klar: Der Ibiza-Ausschuss zur „mutmaßlichen Käuflichkeit“ der ÖVP-FPÖ-Regierung, der nicht weniger als 1,5 Millionen Seiten an Dokumenten sichten konnte und rund 100 Personen aus Politik und Wirtschaft befragte, wird im Juli enden. ÖVP und Grünen haben mit ihrer Mehrheit den Wunsch der Opposition nach dreimonatiger Verlängerung abgelehnt. Damit seien die Grünen von einer „Aufdeckerpartei zu einer Zudeckerpartei“ geworden, kritisierte SPÖ-Geschäftsführer Christian Deutsch.