München – Seit bald 15 Monaten herrscht in Deutschland eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“. Im März 2020, mit dem Übergreifen der Corona-Pandemie auf Deutschland, war dieser neue Rechtsbegriff ins Infektionsschutzgesetz eingeführt und die epidemische Lage auch umgehend vom Bundestag festgestellt worden. Die Feststellung soll erfolgen, wenn das ganze Bundesgebiet von einer Virusausbreitung bedroht ist. Sie ist rechtliche Grundlage für mehrere Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz des Bundes. Sie erlaubt der Bundesregierung bestimmte Regelungen etwa zu Einreise, Tests und Impfungen per Verordnung ohne Zustimmung des Bundesrates zu erlassen.
Nun sinken die Infektionszahlen. Dennoch will die Große Koalition die Feststellung der epidemischen Lage in dieser Woche ein weiteres Mal verlängern, um drei Monate bis Ende September. Die Opposition trug schon die letzte Verlängerung nicht mit. Jetzt regt sich auch in den Regierungsfraktionen Widerstand.
Nachdem sich am Freitag die Bundeskanzlerin und die SPD-Fraktionsspitze für eine Verlängerung ausgesprochen hatten, wurde ein Brief an die Fraktionen von Union und SPD bekannt, den der CDU-Abgeordnete Albert Weiler verfasst hat. Fünf weitere Abgeordnete, vier aus der CDU und einer aus der SPD, haben unterschrieben. „Die Politik hat das Maß verloren“, heißt es darin. „Es ist an der Zeit, den Bürgerinnen und Bürgern ihre Selbstbestimmung zurückzugeben. Wir sind gefangen in einer scheinbar endlosen Schleife von Überregulierungen, Mahnungen und Verboten.“
Das Platzieren der Botschaft per quasi öffentlichem Brief an die Fraktionen ist ungewöhnlich, die Formulierung drastisch. Doch die Position der Verfasser überrascht nicht. Ihre Wortmeldung ist kaum ein Indiz für breiten Widerstand in der GroKo. Die fünf CDU-Abgeordneten hatten, mit etwa einem halben Dutzend weiterer Fraktionskollegen, schon der letzten Verlängerung im April nicht zugestimmt. Der Münchner Abgeordnete Florian Post war einer von zwei Sozialdemokraten, die im April gegen die Bundes-Notbremse stimmten. AfD, FDP und Linke stimmten gegen beides, die Grünen enthielten sich bei der Notbremse.
Der Münchner SPD-Mann Post hatte die Feststellung der epidemischen Lage lange mitgetragen. Im Grundsatz mache die Regelung auch Sinn. Er sieht aber derzeit, abgesehen von „allgemein üblichen Vorsichtsmaßnahmen wie Desinfektionsmittelspendern“, gar keine Notwendigkeit mehr für irgendwelche Corona-Maßnahmen, wie er unserer Zeitung sagte.
Post hatte kürzlich auch Klage gegen die Bundes-Notbremse beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Mit der Notbremse und den Lockdown-Maßnahmen hat die anstehende Abstimmung aber nur indirekt zu tun. Würde der Bundestag die epidemische Lage vorzeitig aufheben, würde auch die Bundes-Notbremse damit außer Kraft gesetzt. Der bundesweit einheitliche Automatismus für Schließungen oder Kontaktbeschränkungen bei bestimmten Inzidenzen in einem Landkreis würde enden.
Doch selbst wenn die epidemische Lage verlängert wird, endet die Bundes-Notbremse am 30. Juni, solange der Bundestag nicht ausdrücklich etwas anderes beschließt. Doch hier gab es auch aus den Regierungsparteien schon länger Signale gegen eine Verlängerung.