München – Die Odyssee dauerte sieben Tage. Vor knapp zwei Wochen retteten Mitarbeiter der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ im zentralen Mittelmeer die ersten Bootsflüchtlinge und holten sie an Bord der „Geo Barents“. Eine Woche verging, bis das Schiff endlich in einem Hafen auf Sizilien anlegen durfte. Unterwegs hatten die Helfer hunderte weitere Migranten aus Seenot gerettet. Am Ende waren es 410, darunter 91 unbegleitete Minderjährige und eine schwangere Frau.
Nicht immer endet der Versuch, von Nordafrika nach Europa überzusetzen, so glimpflich. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) verzeichnet allein im zentralen Mittelmeer, auf der Route von Libyen nach Italien, für dieses Jahr bis heute 686 Tote, und das sind nur die offiziellen Zahlen. 2020 waren es zum selben Zeitpunkt erst 239.
Auch andere Daten weisen auf einen kräftigen Anstieg hin. Mitte Juni registrierte das italienische Innenministerium mit 18 000 Personen bereits mehr als dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Für das gesamte Jahr 2021 rechnet das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mit rund 60 000 Menschen, die allein über die zentrale Mittelmeerroute Italien ansteuern. Das wäre die höchste Zahl an Ankünften seit 2017.
„Diese Zahlen sind nicht hoch“, sagt dennoch Flavio di Giacomo von der IOM. Vor vier Jahren waren zum gleichen Zeitpunkt schon 83 000 Menschen in Italien angekommen. Von einem „Notfall“ könne deshalb heute keine Rede sein: „Italien kann das stemmen.“
Das UNHCR verweist darauf, dass durch die Corona-Pandemie 2020 viele Überfahrten ausgeblieben seien. In diesem Sommer scheinen dafür umso mehr Boote abzulegen. Di Giacomo sieht primär einen anderen Grund: „Die Situation in Libyen.“ Im Gegenzug für technische und finanzielle Unterstützung aus Italien fängt die Küstenwache des nordafrikanischen Landes seit 2017 Schlepperboote ab und bringt die Migranten in Gefängnisse, wo sie unter unwürdigen Bedingungen eingesperrt, oft misshandelt, manchmal auch versklavt werden. Das Abkommen war von Anfang an heftig umstritten. Mittlerweile ist es auch noch brüchig.
Heute findet in Berlin die zweite Libyen-Konferenz statt. Trotz einer Waffenruhe und der Bildung einer Übergangsregierung sind die Verhältnisse alles andere als stabil. Den Geschäften der Schlepper kommt das entgegen. „Inzwischen ist es leichter, das Land zu verlassen“, sagt di Giacomo.
Die Folgen bekommt Italien mit steigenden Flüchtlingszahlen zu spüren. Dass Ministerpräsident Mario Draghi wie seine Vorgänger auf eine stärkere Unterstützung durch die anderen EU-Staaten und einen neuen Verteilmechanismus drängt, kann sein Landsmann di Giacomo verstehen: „Es geht eher um politische als um praktische Solidarität.“
Die aktuelle Regelung beim Verteilen von Flüchtlingen beruht im Grunde auf Freiwilligkeit und ist entsprechend wenig belastbar. Einzelne Länder, besonders Ungarn und Polen, lehnen es kategorisch ab, die südlichen Mitgliedsländer zu entlasten. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán forderte erst vergangene Woche, Migration für zwei Jahre komplett zu unterbinden. Zur Begründung verwies er zwar auf die Corona-Pandemie, ließ allerdings in der Wortwahl („Mi-granten-Armeen trommeln an die Türen Europas“) auch keinen Zweifel an seiner prinzipiell ablehnenden Haltung.
Aus Budapest wird Draghi keine Hilfe erwarten können. In Berlin stößt er grundsätzlich auf offenere Ohren, ohne dass er deswegen konkretere Ergebnisse vorweisen könnte. Sein Treffen mit Angela Merkel am Montagabend verlief harmonisch. Die Frage der Umverteilung von Flüchtlingen soll aber gar nicht zur Sprache gekommen sein.
Wenn morgen in Brüssel das EU-Ratstreffen beginnt, werden die Staats- und Regierungschefs dem Thema nicht ausweichen können. Draghi muss zuhause liefern. In seiner Regierung sitzt auch die rechte Lega, die beim Thema Migration keine großen Zugeständnisse toleriert.
Das zentrale Mittelmeer ist nicht die einzige Region, auf die Europa mit Sorge blickt. Auch im Südosten des Kontinents prägt das Thema Migration die politische Agenda. Merkel sprach sich gestern nach einem Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dafür aus, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei weiterzuentwickeln. Auch wenn das Verhältnis zu Ankara nicht immer einfach ist und der bisherige Pakt mehr als einmal auf die Probe gestellt wurde, sagt Merkel: „Die Türkei leistet Herausragendes, was die Unterstützung von jetzt insgesamt 3,7 Millionen syrischstämmigen Flüchtlingen anbelangt. Und da verdient sie unsere Unterstützung.“