„Orbán setzt bewusst auf Provokation“

von Redaktion

Über den aktuellen Streit mit Ungarn und die inneren Zwistigkeiten in der Europäischen Union sprachen wir mit dem langjährigen Europaabgeordneten und CSU-Außenpolitiker Bernd Posselt.

Wird die Regenbogen-Debatte um das Homosexuellen-Gesetz des ungarischen Parlaments zu hoch gehängt oder ist sie aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?

Ich sage ganz klar: Europas Muttersprache ist der Dialog. Europa funktioniert nicht nach dem Prinzip: Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein. Natürlich muss Europarecht eingehalten werden. Aber es ist doch noch gar nicht klar, ob dieses ungarische Gesetz Europarecht verletzt. Die Europäische Kommission hat die Aufgabe als Hüterin der Verträge, zu prüfen, ob es tatsächlich einen Verstoß gibt. Die tschechische EU-Justizkommissarin Vera Jourova, die ich wegen ihrer Standfestigkeit sehr schätze, hat eine solche Prüfung bereits angekündigt. Aber da darf es nicht um Ideologie gehen, sondern um Fragen des EU-Rechts.

Die EU hat derzeit mit mehreren mittel- und osteuropäischen Regierungen Probleme. Was läuft schief?

Ich sehe das nicht so dramatisch. Nehmen Sie die baltischen Staaten. Mit denen gibt es überhaupt kein Problem. Sie gehören zu den aktivsten und anerkanntesten Mitgliedern der EU. Ausgetreten ist im Übrigen nicht ein mittel- oder osteuropäischer Staat, sondern mit dem Brexit ein westeuropäischer. Vertragsverletzungsverfahren gibt es gegen alle Staaten, auch Deutschland. Ich sage dazu: richtigerweise.

Warum?

Die Frage des Vorrangs des Europarechts muss dringend geklärt werden. Ist Europarecht eine fromme Wunschvorstellung oder wird es auch in kritischen Situationen von großen, reichen Mitgliedstaaten angewandt.

Sie sprechen die Urteile des Bundesverfassungsgerichts und das des Europäischen Gerichtshofs zu den Anleihekäufen der EZB an.

Ja, aber es gibt noch ein anderes schönes Beispiel im Dreiländereck Polen/Tschechien/Deutschland. Auf der polnischen Seite wird Braunkohle abgebaut und unter erheblichen grenzüberschreitenden Umweltbelastungen verbrannt. Die tschechische Regierung hat beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen Polen eingereicht und gewonnen. Jetzt sagt Polen: Nationale Souveränität steht über Europarecht. Interessant: Geht es um seine eigenen wirtschaftlichen Aktivitäten sagt der gleiche tschechische Ministerpräsident Andrej Babis: Nationales Recht geht vor Europarecht. Das heißt, man benutzt das Europarecht, wenn es dem eigenen Vorteil dient, aber wenn es einem im konkreten Fall widerstrebt, wird es nicht akzeptiert. Die Europäische Union wird vom Recht zusammengehalten. Wenn das Europarecht und die EU-Institutionen nicht akzeptiert werden und jeder nach seinem nationalen Vorteil handelt, dann zerfällt die Union.

Aber es gibt doch so etwas wie einen kulturellen Graben, der entlang des früheren Eisernen Vorhangs verläuft. Etwa die Stimmungsmache in Ungarn gegen Minderheiten.

Wenn es um ethnische Minderheiten oder Sprachminderheiten geht, ist Ungarn der vorbildlichste EU-Staat.

Sehen das die Roma auch so?

Das ist eher ein soziales Problem als ein Minderheitenproblem. Die ungarische Regierung hat vor einigen Jahren die EU-Roma-Strategie initiiert, die die Roma in allen europäischen Ländern unterstützt. Eine Roma, Livia Jaroka, wurde von der Orban-Partei Fidesz nominiert, sie ist die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Das heißt, ich halte das meiste, was Viktor Orbán von sich gibt, zwar für unerträglich, aber man muss auch fair sein.

Was stört Sie an Orbán?

Etwa die immer wieder gesuchte Konfrontation nach außen, um die eigenen Wähler zu mobilisieren. Und die Annäherung an Russland.

Warum tut er das? Weil er Putin bewundert?

Nein, ich glaube nicht, dass er Putin bewundert. Ich glaube, dass Orbán sich von der EU an den Rand geschoben fühlt und mit bewussten Provokationen versucht, sein Gesicht und seine Position zu wahren.

Interview: Georg Anastasiadis und Alexander Weber

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