„Die Zahlen sind extrem niedrig“

von Redaktion

Der Migrationsforscher Gerald Knaus war maßgeblich am Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei beteiligt. Im Interview spricht er über die angestrebte Neuauflage sowie Europas gesamte Flüchtlingspolitik.

Die EU strebt einen neuen Pakt mit der Türkei sowie Jordanien und dem Libanon an. Wird der Vertrag den Realitäten gerecht?

Wir haben seit 2016 Erfahrung mit einer Erklärung, die sehr viel erreicht und einige klare Schwächen gezeigt hat. Wir haben gelernt, dass großzügige Unterstützung für die Syrer in der Türkei, sechs Milliarden Euro, eine unglaubliche Wirkung hat. Wir hatten dieses Jahr bisher weniger als 50 Syrer, die versucht haben, in die EU zu kommen. Die Grundidee, Aufnahmestaaten zu unterstützen, funktioniert. Das sollte der EU klar sein, war es aber anscheinend vor einem Jahr nicht. Da hat sie nicht angeboten, die Türkei weiter so zu unterstützen.

Sind die neuen Pläne ein Zeichen der Einsicht?

Wenn eine ähnliche Summe mit einer ähnlichen Entschlossenheit, das Geld schnell auszugeben, vereinbart wird, ist das eine gute Lehre. Die zweite betrifft die Fähigkeit der EU, jemanden in die Türkei zurückzuschicken. Im ganzen Jahr 2019 wurden weniger Menschen zurückgeschickt als in dem einen Monat vor der EU-Türkei-Erklärung. Statt daran zu arbeiten, haben Griechenland und die EU auf das Gegenteil gesetzt und jeden zurückgestoßen ohne jedes Verfahren.

Was heißt das für einen neuen Pakt?

Die entscheidende Frage lautet: Schafft es die EU, schnell und fair zu beurteilen, wen man zurückschicken kann? Und das bei einer extrem kleinen Zahl von Menschen, in diesem Jahr weniger als 1500 in sechs Monaten.

Im Westen gilt die Türkei als schwieriger Partner.

Es gab ein katastrophales Verhalten im Februar 2020, als die Türkei wegen der Situation in Nordsyrien hunderttausende neue Flüchtlinge befürchtete und darauf setzte, die Leute Richtung EU zu schicken. Das war ein großer Fehler. Aber: Ein Lager wie Moria haben auch die kritischsten Journalisten in der Türkei nirgendwo gefunden. Von den zehn Millionen zusätzlichen Flüchtlingen in den letzten zehn Jahren weltweit ist ein Drittel in einem einzigen Land aufgenommen worden – der Türkei. Da braucht sich das Land nicht zu schämen.

Die EU-Flüchtlingspolitik basiert auf Abschottung. Gibt es andere Wege?

Wenn ein Boot losfährt, haben italienische oder griechische Behörden drei Möglichkeiten: Sie können die Leute registrieren, dann bleiben sie in der EU. Oder man stößt die Boote zurück bzw. telefoniert mit der libyschen Küstenwache – obwohl man weiß, wie die Leute dort misshandelt werden. Das ist gegen EU-Recht, aber es hält die Zahlen niedrig. Deshalb brauchen wir Option drei. Sie bedeutet, dass niemand ohne Prüfung zurückgeschickt wird. Das schließt eine Kooperation mit Libyen aus, nicht mit der Türkei oder Tunesien.

Die Flüchtlingszahlen steigen, liegen aber weit unter denen vor vier, fünf Jahren. Wie hoch sind sie?

Extrem niedrig. In den vergangenen sechs Monaten sind knapp über 30 000 Menschen über das gesamte Mittelmeer gekommen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten waren die Zahlen immer so niedrig, abgesehen von drei, vier Ausnahmejahren. Und das weiß jeder italienische Politiker: Das waren die dreieinhalb Jahre nach dem Beginn der Seenotrettungsaktion „Mare Nostrum“. Da waren es insgesamt über 600 000. Und sie sind 2018 sofort gefallen, als 2017 die italienische Politik wieder geändert wurde.

Ist eine Verteilquote innerhalb der EU Utopie?

Die entscheidende Frage ist ausgeklammert: Was passiert mit denen, die in Italien ankommen und keinen Schutz bekommen? Marokkaner, Tunesier, Senegalesen. Das ist die größte Zahl. Darauf gibt es keine Antwort, weil auch Italien klar ist, dass die niemand verteilen wird. Das Zweite, was unehrlich ist: Wir haben in Europa einen Wettbewerb im Senken der Standards, damit Leute weiterziehen. Ungarn hat es vorgemacht.

Viele sind gefolgt.

Das Ergebnis ist, dass die allermeisten Asylanträge heute in Ländern wie Frankreich und Deutschland gestellt werden, die dieses Spiel nicht mitspielen. Vor diesem Hintergrund sind Debatten über europäische Lösungen entweder unehrlich oder absurd naiv. In Wirklichkeit brauchen Deutschland und Frankreich eine Lösung, die in Kooperation mit den Schlüsselländern – Italien, Spanien, Griechenland – dazu führen würde, dass diejenigen, die keinen Schutz erhalten, gar nicht erst in die EU kommen. Wenn im Gegenzug Deutschland und Frankreich jeden aufnehmen würden, auf den das nicht zutrifft, stünden sie immer noch viel besser da.

Interview: Marc Beyer

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