München – Mitten im Sommer kann die Aussicht auf den Herbst bedrückend wirken. Das ist schon so, wenn es nicht um das Coronavirus geht, aber auch mit Blick auf die Infektionszahlen ist die Vorfreude auf die graue Jahreszeit getrübt. Die Ausbreitung der Delta-Variante, die mittlerweile 59 Prozent aller neuen Fälle im Land ausmacht, hat damit ebenso zu tun wie die Debatte um die Schulen, die nach den Ferien bei IT-Ausstattung und vor allem Luftfiltern vor enormen Herausforderungen stehen werden.
Eine Berufsgruppe, die den Herbst vergleichsweise entspannt erwartet, sind überraschend die Intensivmediziner. Über Monate waren sie eine der lautesten Stimmen in der Debatte um strenge Schutzmaßnahmen, jetzt aber sehen sie sich für eine mögliche vierte Corona-Welle gut gerüstet. Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, sagte dem „Handelsblatt“, er blicke „mit Respekt, aber nicht mit Panik auf den Herbst und eine mögliche vierte Welle“. Sie werde dank des Impffortschritts „grundlegend anders verlaufen als die Wellen zuvor“.
Marx geht davon aus, dass es weniger schwere Fälle geben wird, „also auch deutlich weniger Patienten mit Covid-19 auf den Intensivstationen“. Dort befänden sich derzeit annähernd 500 Patienten aus der vorangegangenen Welle. „Es werden kontinuierlich Corona-Patienten auf den Intensivstationen landen, aber eben nicht in überdurchschnittlichen Zahlen wie in der Hochzeit der Pandemie“, sagte Marx. „Das erleben wir auch bei der Influenza.“
Der Vergleich mit klassischen Grippe-Wellen war gerade zu Beginn der Pandemie irreführend und wurde oft als Mittel der Verharmlosung eingesetzt, doch Marx bezieht sich ausdrücklich nur auf die Situation in den Krankenhäusern. Die Belegung normalisiere sich. „Aus intensivmedizinischer Sicht“ werde Corona mit Blick auf die Bettenauslastung „tatsächlich zu einer normalen Grippe“.
Einen „entspannten Herbst und Winter“ macht der Divi-Präsident davon abhängig, wie sich die Impfquote entwickelt. Gestern wurde beim Anteil der vollständig Geimpften die 40-Prozent-Marke überschritten (40,8). Weitere 16,8 Prozent haben bisher eine Spritze erhalten. Marx erwartet, dass noch große Anstrengungen nötig sein werden, um die Zahlen deutlich nach oben zu treiben. „Mobile Impfteams in Innenstädten und großen Treffpunkten wie beispielsweise Fußballstadien sind ebenfalls sinnvoll“, sagte er. „Außerdem sollten wir uns ein Beispiel an Kampagnen wie in den USA nehmen und die Impfung mit einer Verlosung von einem Gewinn von hunderttausenden Euro verbinden.“
In diese Richtung denken auch Politiker, nur in bescheidenerem Rahmen. Tobias Hans, Ministerpräsident des Saarlands, sagte der Funke-Mediengruppe: „Man könnte an eine Verlosung denken, bei der unter den Impfbereiten beispielsweise ein Fahrrad, ein Fremdsprachenkurs oder ein anderer schöner Preis ausgegeben wird.“
Die Impfquote müsse das Kriterium für ein Ende der Corona-Maßnahmen sein, fordert Intensivmediziner Marx. „Bei einer Quote von 85 Prozent können wir meines Erachtens auf alle Maßnahmen verzichten.“ mb/afp