Lukaschenko auf Rachefeldzug

von Redaktion

VON ALEXANDER WELSCHER, DORIS HEIMANN & ULF MAUDER

Minsk/Vilnius – Zu Hunderten lässt der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko jetzt Flüchtlinge aus Kriegsgebieten wie Syrien und Afghanistan in den Westen – als Reaktion auf die Sanktionen der EU. Er werde niemanden mehr aufhalten, der in das gemütliche Europa wolle, sagt der 66-Jährige diese Woche bei einer Regierungssitzung in Minsk (wir berichteten). Dass die Drohungen des „letzten Diktators Europas“, wie er genannt wird, ernst gemeint sind, bekommt bisher vor allem das benachbarte baltische EU-Land Litauen zu spüren.

Nach 81 Flüchtlingen im gesamten Jahr 2020 in Litauen haben die Behörden nach offiziellen Angaben aus Vilnius in diesem Jahr bereits mehr als 1500 Menschen aufgegriffen, davon 93 innerhalb von 24 Stunden laut Mitteilung vom Donnerstag. Sie kommen vor allem aus dem Irak, Syrien und Afghanistan. Regierungschefin Ingrida Simonyte wirft Lukaschenko vor, das Land und die EU destabilisieren zu wollen.

Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel sind besorgt angesichts der gespannten Lage an der Grenze. „Wir verurteilen alle Versuche, illegale Migration zu instrumentalisieren, um Druck auf die EU-Mitgliedstaaten auszuüben“, sagt Michel bei einem Besuch in Litauen. Von der Leyen spricht von einem „politisch motivierten Muster“.

Lukaschenko macht indes keinen Hehl daraus, dass er sich für die Sanktionen der EU rächen will. Immer wieder fordert er seinen Machtapparat auf, sich harte Antworten zu überlegen. „Es läuft ein Krieg“, sagt er vor Ministern. Aber die kleine und wirtschaftlich von Russland abhängige Ex-Sowjetrepublik hat kaum Hebel in der internationalen Politik.

Auch deshalb konzentriert Lukaschenko sich nun vor allem auf die Migranten. „Wenn irgendjemand denkt, dass wir die Grenze zu Polen, Litauen, Lettland und der Ukraine schließen und zu einem Sammelbecken werden für Flüchtlinge aus Afghanistan, aus dem Iran, aus dem Irak, aus Libyen, Syrien, Tunesien und noch tiefer aus Afrika, dann hat er sich mindestens geirrt“, donnert Lukaschenko. Allein am Mittwoch herrscht Hochbetrieb auf dem Flughafen der Hauptstadt Minsk: zehn Flüge aus der Türkei, zehn aus Ägypten, einer aus dem Irak.

Dabei war in Belarus die Angst zunächst groß, der Airport könnte wegen der EU-Sanktionen in der Bedeutungslosigkeit versinken. Nach der umstrittenen Zwangslandung einer Ryan- air-Passagiermaschine sperrte die EU ihren Luftraum für Fluggesellschaften aus Belarus. Und Airlines aus der EU umfliegen das unberechenbare Land, weil der regierungskritische Blogger Roman Protassewitsch und seine Freundin nach der Ryanair-Landung festgenommen wurden.

Rasch holt sich Lukaschenko nach der umstrittenen Aktion Rat bei seinem Moskauer Kollegen Wladimir Putin. Der russische Staatschef wird seit der von Fälschungsvorwürfen und Massenprotesten begleiteten Präsidentenwahl 2020 nicht müde, Lukaschenko Hilfe zuzusichern.

Der im polnischen Exil lebende belarussische Oppositionelle Pawel Latuschko hält Lukaschenkos Drohungen, Europa mit Flüchtlingen zu destabilisieren, für eine durchorganisierte Spezialoperation. Es habe bisher nie eine natürliche Bewegung von Flüchtlingen über Belarus gegeben. „Das Regime organisiert sie selbst künstlich“, sagt Latuschko.

Der frühere Kulturminister hält die Situation daher auch für nicht vergleichbar mit der Türkei, deren Präsident Recep Tayyip Erdogan auch regelmäßig versuche, die EU mit Migranten unter Druck zu setzen. Latuschko geht davon aus, dass ein Reisebüro im Auftrag der Minsker Präsidialverwaltung Charterflüge etwa aus dem Irak organisiert und Flüchtlinge gezielt ins Land schleust. „Danach fährt man sie organisiert an die Grenze, damit sie diese illegal überqueren“, sagt der frühere Diplomat. Alle Grenzabschnitte zu Belarus sollen nun schnellstens mit moderner Technik nachgerüstet werden. Bis dahin sollen Soldaten bei der Sicherung der Grenze helfen, kündigt Regierungschefin Simonyte an. Unterstützung kommt auch von der EU. Mit litauischen Grenzschützern patrouillieren seit Anfang Juli sechs Beamte der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Bis Ende des Monats soll ihre Zahl auf 30 wachsen.

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