Geht es nach US-Präsident Joe Biden, so ist nach dem Abzug der westlichen Truppen eine Übernahme Afghanistans durch die Taliban „nicht unvermeidlich“. Diese Aussage ist ein erstaunlicher Selbstbetrug des erfahrenen Außenpolitikers, der in der Lage sein müsste, die Realitäten des langjährigen Schlachtfelds besser einzuschätzen. Denn Biden suggeriert mit seiner Aussage, das afghanische Militär sei in der Lage, Sicherheit und Stabilität in dem Land langfristig zu garantieren. Doch der US-Präsident macht sich dabei das Prinzip Hoffnung zu eigen. Denn die Erfahrung zeigt: Sobald sich Nato-Kontingente aus bestimmten Regionen Afghanistans zurückzogen, machten sich dort die rückwärtsgewandten und frauenfeindlichen Islamisten breit.
Natürlich ist es bitter, unter das mehr als 20-jährige Engagement des Westens und den hohen Blutzoll einen resignierenden Schlussstrich zu ziehen. Doch Biden blieb für seinen Endtermin 31. August innenpolitisch kaum eine andere Wahl. Die US-Bürger waren schon unter Barack Obama und Donald Trump mehrheitlich kriegsmüde und sahen keinen großen Sinn mehr in einer Präsenz am Hindukusch. Der Demokrat hat nun bei den Kongress-Zwischenwahlen im kommenden Jahr ein weiteres Pfund, mit dem er wuchern kann: den längsten Militäreinsatz in der amerikanischen Geschichte beendet zu haben. Die Langzeitfolgen dieser Entscheidung für Afghanistan kann jedoch auch Biden heute nicht klar vorhersagen.
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