Genf – Es gab eine Phase, die Klimaforscher ratlos machte. Von 1998 bis 2014 veränderte sich die globale Mitteltemperatur kaum. „Nicht, das jemand Zweifel an den Grundlagen gehabt hätte“, sagt Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. „Aber man fragt sich, wenn so ein Phänomen auftritt, das man nicht vorhergesehen hat: wo sind die Grenzen unserer Erkenntnis?“ Dann kam es allerdings ganz dicke.
2013/14 veröffentlichte der Weltklimarat (IPCC) seinen 5. Sachstandsbericht. Kaum war er draußen, stieg die globale Mitteltemperatur dramatisch an. 2015 bis 2020 waren die wärmsten Jahre seit Messbeginn. Dass sich von 1998 bis 2014 wenig tat, war eine normale Schwankung, aber statistisch ein Extremereignis, sagt Marotzke, „so, als wenn man bei ‚Mensch ärgere Dich nicht‘ acht Mal hintereinander eine 6 würfelt.“
Am 9. August erscheint nun der mit Spannung erwartete erste Band des neuen Sachstandsberichts, der sich mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels befasst. Den letzten Schliff bekommt er in einer zweiwöchigen IPCC-Sitzung, die heute beginnt. Eins ist vorab schon klar: der neue Bericht wird anders.
„Der Fokus hat sich verschoben“, sagt Douglas Maraun, ein deutscher Mitautor und Experte für statistische Modellierung an der Universität Graz. „Früher war die Hauptfrage: Was ist der Anteil des Menschen am Klimawandel? Diese Frage ist beantwortet.“ Jetzt stünden eher Klimarisiken im Fokus. Es brauche einen Bericht als Grundlage für Anpassungen. Dazu gehören etwa möglichst gute Vorhersagen für den regionalen Klimawandel.
Deshalb enthält der neue Bericht einen interaktiven regionalen Atlas. Dort kann man schauen, welche Auswirkungen bestimmte Klimaindikatoren voraussichtlich zu bestimmten Jahreszeiten haben. Das lasse sich zwar nicht auf Länderebene herunterbrechen, aber auf Regionen, Mittel-West-Europa etwa. „Die Sommertemperaturen steigen hier deutlich stärker als von Klimamodellen simuliert“, sagt Maraun.
Tatsächlich ist der Klimawandel in Deutschland aus verschiedenen Gründen stärker zu spüren als im Durchschnitt auf der Erde. Weltweit stieg die Temperatur um durchschnittlich rund 1,1 Grad über das vorindustrielle Niveau, in Deutschland um rund 1,6 Grad seit 1881, wie Mitautorin Astrid Kiendler-Scharr vom Forschungszentrum Jülich sagt. Auch Sonnenscheindauer, Hitzetage und Tage mit Starkregen haben hier zugelegt (siehe Grafik).
In einem Klimamodell wurde 2016 genau für die deutschen Regionen, die jüngst die Flutkatastrophe erlebten, mehr Starkregen vorausgesagt, sagte Ozeanforscher Mojib Latif vom Kieler Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung. „Der Mensch verlässt gerade den klimatischen Wohlfühlbereich, jetzt wird es gefährlich“, sagte er.
Großes Thema werde auch der Meeresspiegelanstieg, sagt Marotzke, ebenfalls Mitautor. „Diese Frage wird in der Wissenschaft heiß diskutiert.“ Die größten Unsicherheitsfaktoren seien die großen Eisschilde von Grönland und der Antarktis und ihre möglichen Instabilitäten.
„Mir fällt spontan nichts ein, wo Dinge weniger dramatisch waren als es die Modelle vorausgesagt haben“, sagt Maraun. Er sei aber trotzdem „milde optimistisch“: „Die Klimaschutzpolitik bewirkt etwas, wir sind noch lange nicht auf dem grünen Zweig, aber das ganz Dystopische wird unwahrscheinlicher.“ Das Ziel des Klimaabkommens von Paris möglichst unter 1,5 Grad Erwärmung zu bleiben, sei aber „sportlich“.
Marotzke hadert mit Aktivisten, die mit Untergangsszenarien Stimmung machen: „Ich habe Mühe mit dem Konzept ,point of no return‘ “, dem Punkt, an dem die Klimawandelfolgen unumkehrbar sind. Das klinge so, als ob danach die Welt untergehe, egal, was man tue. „Diesen Punkt gibt es nicht. Es lohnt sich immer, weitere Erwärmung zu verhindern oder zu begrenzen.“