München – Helge Braun ist eine eher sanfte Erscheinung, aber hin und wieder lässt der Kanzleramtsminister einen Satz los, der es in sich hat. Anfang des Jahres etwa forderte er, die Schuldenbremse auf Jahre auszusetzen, was auch intern sofort für viel Unruhe sorgte. Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus sprach abwehrend von einer „persönlichen Meinungsäußerung“.
So ein Braun-Satz kann also heikel sein, am Wochenende stellte er das erneut unter Beweis. Mit der „Bild am Sonntag“ sprach er unter anderem über die steigenden Corona-Zahlen – und sagte: „Geimpfte werden definitiv mehr Freiheiten haben als Ungeimpfte.“ Braun geht davon aus, dass die Sieben-Tage-Inzidenz ohne deutlich höhere Impfquote oder Verhaltensänderungen in neun Wochen bei 850 liegen wird. Das wären 100 000 Neuinfektionen jeden Tag.
Die Inzidenz stieg binnen drei Wochen von 4,9 auf 13,8. In der Altersgruppe der 20- bis 24-Jährigen liegt sie deutlich über 30. Die Zahlen stiegen schneller als in vorherigen Wellen, sagte Braun. Das Robert-Koch-Institut rechnet schlimmstenfalls mit bis zu 6000 Corona-Intensivpatienten gleichzeitig.
Um einen Lockdown zulasten Geimpfter zu verhindern, werde es bei Nicht-Geimpften „Testpflichten und bei hohen Infektionszahlen weitere Verschärfungen geben müssen“. Dann würden Ungeimpfte Kontakte reduzieren müssen. „Das kann auch bedeuten, dass gewisse Angebote wie Restaurant-, Kino- und Stadionbesuche selbst für getestete Ungeimpfte nicht mehr möglich wären, weil das Restrisiko zu hoch ist“. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach pflichtet Braun bei. Die Zahl falsch negativer Tests sei zu hoch, um Getestete mit Geimpften und Genesenen gleichzustellen.
Braun warnt vor Auswirkungen auf das Arbeitsleben wie in Großbritannien. Die Inzidenz erreichte dort kürzlich Rekordwerte von über 1000 neuen Fällen je 100 000 Einwohner in einer Woche. Die Belastung für das Gesundheitssystem ist zwar bislang nicht vergleichbar mit früheren Corona-Wellen. Die ungeimpften Infizierten sind jetzt meist jünger und, ebenso wie trotz Impfung Infizierte, weniger anfällig für schwere Verläufe.
Doch es gibt in allen Altersgruppen auch coronabedingte Klinikeinweisungen. Um deshalb die Fallzahlen nicht völlig aus dem Ruder laufen zu lassen, gelten Quarantäneregeln. Die Folge: Rund 1,7 Millionen Briten müssen sich derzeit als Kontaktpersonen von Infizierten isolieren, darunter große Teile der Belegschaften von Lebensmittelmärkten, Pflegeeinrichtungen, Logistikfirmen oder Müllabfuhren. Supermarktregale leeren sich, weil Personal zum Auffüllen fehlt. Mülltonnen bleiben dagegen voll.
Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) plädierte dafür, dass Impfverweigerer künftig für Schnelltests zahlen müssten oder „nicht an jeder Veranstaltung teilnehmen“ könnten. Es könne nicht sein, „dass sich für Geimpfte nichts ändert, nur weil die Gesellschaft dauerhaft Rücksicht auf die Verweigerer nehmen muss“.
Hans‘ baden-württembergischer Amtskollege Winfried Kretschmann (Grüne) hält es für möglich, „dass wir irgendwann gewisse Bereiche und Tätigkeiten nur noch für Geimpfte zulassen“. Für den Fall neuer Virusvarianten will er eine Impfpflicht zumindest für bestimmte Berufsgruppen nicht ausschließen.
FDP, AfD und der Linken gehen schon die jetzt ins Spiel gebrachten Einschränkungen zu weit. Und auch in der Union gibt es Widerspruch. Armin Laschet, NRW-Ministerpräsident und CDU-Kanzlerkandidat sagt, er sehe derzeit keinen Anlass für eine Debatte über Rechte von Geimpften und Ungeimpften. Sollte jedoch im Herbst die Impfquote immer noch viel zu niedrig sein, müsse man weiter nachdenken.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) dagegen will mit den Unions-Länderchefs am Dienstag per Videoschalte beraten und fordert baldmöglichst eine Ministerpräsidentenkonferenz. Ihm geht es neben Regeln für Reiserückkehrer, etwa eine generelle Testpflicht ab 1. August, um eine verbindliche Formel aus Inzidenz, Impfquote und belegten Krankenhausbetten, „um zu wissen, ab wann Maßnahmen ergriffen werden müssten – und welche Rechte sich für Geimpfte daraus ergeben.“