Eigentlich ist Tunesien ein Hoffnungsträger gewesen. Es ist das einzige Land, das den Übergang aus den Wirren des Arabischen Frühlings in einen friedlichen Demokratisierungsprozess geschafft hat. Der Volksaufstand, der Ende 2010 begann, zwang Diktator Ben Ali zur Flucht. In der Folge gab es erstmals freie Wahlen. Und 2014 gab sich das Land eine bis heute geltende Verfassung. Auf genau die beruft sich nun Staatspräsident Kais Saied bei seinem radikalen Vorgehen. Er setzte den Regierungschef Hichem Mechichi ab, suspendierte das Parlament und legte die Staatsgewalt, abgesichert von Armee und Polizei, quasi in seine eigenen Hände. Er macht Mechichi und die Islamisten für die ökonomische Krise sowie die hohen Corona-Infektionszahlen verantwortlich.
Was Saied als Notstandsmaßnahmen zur Rettung des Staates bezeichnet, nennen die Entmachteten einen Putsch von oben. Und die sichtbaren Auswirkungen in Tunis nähren diesen Verdacht: Das Parlament ist von Soldaten umstellt, die Abgeordneten sind ihrer Immunität beraubt, Anhänger der beteiligten Lager protestieren in den Straßen. So droht im Ursprungsland der Arabellion die zarte Pflanze Demokratie zertreten zu werden. Denn von einem geordneten Übergang, von Neuwahlen und neuer Regierungsbildung ist nicht die Rede. Zurzeit gibt es allein die Drohung, dass auf Gewalt mit Gegengewalt der Armee reagiert werde. Man muss Schlimmes, sogar bürgerkriegsähnliche Zustände befürchten.
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