Wohin steuert Tunesien?

von Redaktion

VON JOHANNES SADEK

Tunis – Tunesiens Präsident Kais Saied hat die Arbeit von Regierung und Parlament im Land mit einem Schlag auf Eis gelegt. Ministerpräsident Hichem Mechichi wurde abgesetzt. Saied will die Amtsgeschäfte nun selbst mit einem noch zu bestimmenden Nachfolger Mechichis fortführen. Das Parlament wurde für zunächst 30 Tage geschlossen. Diese Suspendierung kann laut Saied wenn nötig aber verlängert werden, „bis die Lage sich beruhigt“. Zudem wird die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben.

Saied verweist auf die aus seiner Sicht unmittelbar drohende Gefahr für Tunesien. Seit Tagen kommt es dort angesichts einer sich zuspitzenden Wirtschaftskrise sowie rasant steigender Corona-Zahlen wieder zu landesweiten Protesten. Die nur sehr langsam laufenden Impfungen seien ein Beleg dieser Gefahr für das Volk, sagt Saied. Die Verfassung, so der frühere Juraprofessor, räume ihm in Artikel 80 für so einen Fall das Recht zu außergewöhnlichen Maßnahmen ein.

Das aber ist umstritten. Für eine Anwendung des Artikels 80 müsste das Parlament, dessen Arbeit Saied suspendiert hat, eigentlich weiterhin tagen. Rached Ghannouchi, Parlamentspräsident und Chef der islamisch-konservativen Ennahda-Partei, hat zudem erklärt, Saied habe sich, anders als vorgeschrieben, nicht vorab mit ihm beraten. Klären könnte den Streit ein Verfassungsgericht, dessen Gründung wegen eines Konflikts über die Richter-Zusammensetzung aber immer noch aussteht.

Doch wer ist Kais Saied (63) und welche Ziele verfolgt er? Der parteilose, meist etwas steif wirkende Verfassungsrechtler ist den meisten Tunesiern wohl erst seit seiner Kandidatur für das Präsidentenamt 2019 bekannt. Der damalige Politikneuling gewann die Wahl mit überwältigender Mehrheit und genießt in Umfragen bis heute großen Rückhalt in der Bevölkerung. Seine genauen Ziele sind nicht bekannt. Er versucht aber seit Monaten, seine Macht auszubauen. So verweigerte er die Vereidigung von fast einem Dutzend Ministern, feuerte den Gesundheitsminister und gab dem Militär die Kontrolle beim Kampf gegen die Pandemie.

Auch die aktuelle Krise hat sich über Monate aufgebaut und ist eine neue Stufe im Machtkampf zwischen Saied, Mechichi und der Ennahda-Partei. Die Demokratie in Tunesien ist jung und nicht gefestigt, und Reformen kommen seit dem Sturz von Langzeitherrscher Ben Ali nach Massenprotesten im Jahr 2011 nur schleppend voran. Der Optimismus, dass Tunesien ein Musterbeispiel für demokratischen Wandel in der Region ist, ist verflogen.

Ob Tunesien nun eine autoritäre Herrschaft droht, ist unklar. Viele fühlen sich aber erinnert an Präsident Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten, der 2013 in einem vom Militär getragenen Staatsstreich an die Macht kam. Zeichen dafür könnten die Erstürmung der Büros vom Fernsehsender Al-Dschasira durch bewaffnete Polizisten sein – wie auch die Warnung Saieds mit Blick auf Gewalt im Land: „Wenn jemand einen einzigen Schuss abfeuert, werden unsere Armee und Sicherheitskräfte mit einem Kugelhagel zurückschlagen.“

Als regionaler Nachbar in Nordafrika ist Tunesien auch für die EU und Deutschland von großer Bedeutung. Das Land zählt mit Libyen zu den wichtigsten Transitländern für Migranten auf ihrem Weg nach Europa. Größere Unruhen könnten sich auch auf die Nachbarländer Algerien und Libyen auswirken. Untätigkeit der Europäer in der Krise könne einen „anti-demokratischen Dominoeffekt“ verursachen, warnt Tarek Megerisi vom European Council on Foreign Relations. Andere regionale Mächte könnten dann versuchen, dieses Vakuum zu füllen.

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