Wie Lukaschenko Furcht verbreitet

von Redaktion

VON CHRISTIAN THIELE

Minsk – Witali ist wütend auf Machthaber Alexander Lukaschenko. Sein Sohn ist erst vor wenigen Tagen in Belarus zu zweieinhalb Jahren Straflager verurteilt worden, weil der 21-Jährige an seiner Universität gegen Lukaschenko protestiert hat. „Dieses Urteil ist völlig willkürlich, ohne Beweise, ohne rechtliche Grundlage“, schimpft der Familienvater. Der 50-Jährige sitzt in einem Café und erzählt seine Geschichte. Er will am Fenster seinen Espresso trinken, damit er sieht, falls die Polizei anrücken sollte.

Nachdem sich Lukaschenko am 9. August bei der Präsidentenwahl mit 80,1 Prozent der Stimmen nach mehr als 25 Jahren an der Macht im Amt bestätigen ließ, gingen Hunderttausende monatelang jedes Wochenende aufs Neue auf die Straße. Lukaschenko ließ die Proteste mitunter blutig niederschlagen und blieb so an der Macht. Minsk zeigt sich an diesem heißen Sommertag Ende Juli zumindest nach außen hin wie eh und je.

„Wir müssen vorsichtig sein“, sagt ein 32-Jähriger beim Spaziergang und wird plötzlich nervös. Ein kleiner Transporter ohne Fenster steht halb auf dem Gehweg. Der Mann mit Bart und Brille ist bereits zweimal festgenommen worden. 15 Tage saß er vor einigen Monaten im Gefängnis, weil er demonstrierte. Seinen Namen will er nicht öffentlich lesen. Tage nach dem Gespräch bittet er darum, auch nichts über seinen Beruf zu schreiben. Wie viele seiner Landsleute ist er von der Gewalt der Polizei eingeschüchtert. Mehr als 500 politische Gefangene gibt es. Und erst gestern ist ein vermisst gemeldeter belarussischer Aktivist in der ukrainischen Hauptstadt Kiew tot aufgefunden worden. Witali Schischow wurde erhängt in einem Park in der Nähe seines Wohnorts entdeckt. Er war von einer Joggingrunde nicht zurückgekehrt. Zuvor habe er sich verfolgt gefühlt, haben mehrere Medien berichtet.

Der 32-Jährige in Minsk trägt einen Rucksack bei sich. Darin stecken Socken, Unterwäsche und Hygieneartikel. „Für den Fall einer Festnahme“, sagt er und zeigt auf ein Gebäude, in dem er mal gearbeitet hat. Ihm wurde nach der Festnahme gekündigt. Viele andere kehrten ihrer Heimat den Rücken. Er aber will bleiben: „Ich kann meinem Land in Minsk mehr helfen als im Ausland.“

Allein 2020 ist die Einwohnerzahl von Belarus laut offizieller Statistik um 60 000 auf 9,3 Millionen gesunken – wegen der Corona-Pandemie, aber auch durch Abwanderung. Die Anführer der Massenproteste sitzen entweder im Gefängnis oder mussten ins Ausland fliehen. Ihnen ist es nicht gelungen, den als „letzten Diktator Europas“ kritisierten Lukaschenko zu stürzen.

Viele bauen sich in der EU ein neues Leben auf. Inga ist eine von ihnen. Sie lebt jetzt in Bayern, vorher in Minsk. „Sie laden mich immer noch zum Verhör vor den Untersuchungsausschuss“, berichtet sie. Die 40-Jährige hatte Videos für Viktor Babarikos Wahlkampf gedreht. Der aussichtsreichste Herausforderer von Lukaschenko war vor der Wahl verhaftet und Anfang Juli zu 14 Jahren Straflager verurteilt worden.

Lukaschenko sieht sich zwar ein Jahr nach der Wahl als Sieger. Doch der Preis ist hoch. Die Menschen sind verängstigt und unsicher. Die Stimmung im Land, das der 66-Jährige mithilfe von Russlands Staatschef Wladimir Putin mit harter Hand führt, ist bleiern. Viele warten darauf, dass der Machthaber seinen Posten räumt. In russischen Medien wird vielfach darüber spekuliert, dass Russland irgendwann einen neuen moskautreuen Statthalter einsetzen könnte. Doch Lukaschenko findet durchaus auch Rückhalt in Teilen der Bevölkerung. „Ich fühle mich in Belarus sicher, es gibt kaum Kriminalität“, sagt die 30 Jahre alte Julia. Andere blenden die Politik komplett aus ihrem Alltag aus.

An den Aufstand erinnert zumindest im Zentrum von Minsk mit seinen knapp zwei Millionen Einwohnern derzeit nichts mehr. An den offiziellen Gebäuden weht die Staatsflagge. Der Protest ist leise geworden.

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