Berlin/München – Die Regierung warnt hier und warnt da, man kann als einfacher Reisender leicht den Überblick verlieren. Der Rat in Sachen Afghanistan sticht allerdings sehr deutlich heraus. Reisen Sie so schnell wie möglich aus, so lange es noch geht, bittet das Außenministerium. Es werde vielleicht bald keine Linienflüge mehr zur Flucht geben und keine Betreuung durch deutsche Diplomaten in Notfällen.
Die drastische Warnung vom Donnerstagmorgen gilt auch für die Hauptstadt Kabul, und sie hat Gründe. Seit sich der Westen mit seinen Streitkräften weitgehend aus Afghanistan zurückgezogen hat, kollabiert das Land. Die USA verlegen zwar noch einmal 3000 Soldaten nach Kabul – aber nur, um die Evakuierung des eigenen Botschaftspersonals abzusichern. Die radikalislamistischen Taliban erobern Stadt für Stadt, Provinz für Provinz. Am Mittwoch nahmen sie mit Faisabad eine weitere Provinzhauptstadt ein, in der einst die Bundeswehr mit einem großen Feldlager stationiert war. Kundus ist bereits verloren, Mazar-e-Sharif mit dem großen deutschen Lager wird sicher bald folgen. Am Donnerstag traf das Schicksal die wichtige Provinzhauptstadt Gasni im Südosten, 180 000 Einwohner, unter 150 Kilometer von Kabul entfernt. In Kandahar, der zweitgrößten Stadt Afghanistans, stürmten die Taliban das Zentralgefängnis und befreiten Gefangene. Zudem eroberten sie mit Herat die drittgrößte Stadt.
Aus dem Land meldet der Sender Al-Jazira, es gebe das Angebot der Regierung, sich die Macht mit den Taliban zu teilen und sie an der Regierung zu beteiligen. Bedingung: Die Gewalt müsse enden. Dass die Taliban nun auf den Sturm auf Kabul verzichten, ist aber kaum wahrscheinlich.
In Berlin herrscht Ernüchterung. Man sehe nun „sehr, sehr bittere Bilder, gerade mit Blick auch auf unseren Einsatz in den vergangenen 20 Jahren“, sagte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) im Deutschlandfunk. „Was nicht gelungen ist – das gehört zur Realität und zur Betrachtung hinzu – ist unser Ziel, aus Afghanistan ein anderes Land zu machen, es nachhaltig positiv zu wenden.“
Außenminister Heiko Maas (SPD) denkt bereits laut darüber nach, was aus den enormen deutschen Hilfsgeldern wird, wenn die Taliban mal die Macht ganz übernehmen. „Wir werden keinen Cent mehr nach Afghanistan geben, wenn die Taliban dieses Land komplett übernommen haben, die Scharia einführen und dieses Land ein Kalifat wird“, sagte Maas im ZDF. Das Land sei „ohne internationale Hilfe nicht lebensfähig“. Auch die USA machten klar, dass internationale Hilfszahlungen dann eingestellt würden. Deutschland unterstützt Afghanistan laut Maas mit jährlich 430 Millionen Euro.
Maas kündigte auch eine Aktualisierung des Lageberichts an, der den deutschen Behörden als Grundlage für Abschiebentscheidungen dient. „Dort wird von einer deutlich schlechteren Sicherheitslage auszugehen sein“, sagte er. Am Mittwoch hatte das Bundesinnenministerium entschieden, wegen der eskalierenden Gewalt vorerst keine Afghanen mehr abzuschieben; auch keine Straftäter. Ein Ende dieses Abschiebestopps ist nicht absehbar.
Der Konflikt am Hindukusch dürfte Deutschland noch auf anderem Weg erreichen. Das Außenministerium rechnet mit einer steigenden Zahl von Flüchtlingen aus der Region auch in Europa und Deutschland. „Es ist naiv zu glauben, dass der Vormarsch der Taliban und die Gewalt in der Kriegsregion keine migrationspolitischen Folgen hat“, heißt es dort – vielleicht nicht in den kommenden Wochen, aber langfristig. Schon jetzt gibt es eine hohe Zahl von Binnenflüchtlingen. Nach UN-Angaben sind seit Beginn des Jahres 359 000 Afghanen vor den Kämpfen geflohen.