Kabul – Der afghanische Verteidigungsminister Bismillah Chan Mohammadi soll sich diese Woche gewundert haben. Er habe seine Mitarbeiter gefragt, wie es möglich sei, dass er eine Stadt nach der anderen an die Taliban verliere, aber praktisch keine Berichte über verwundete oder getötete Soldaten auf seinem Tisch vorfinde.
Mohammadi dürfte sich gegen Ende der Woche noch mehr gewundert haben. 18 der 34 Provinzhauptstädte haben die Taliban in einer einzigen Woche eingenommen, darunter solche Kaliber wie das historische Herat im Westen oder die zweitgrößte Stadt Kandahar im Süden des Landes. Nummer 15, 17 und 18, Firus Koh im Westen und Tirinkot und Kalat im Süden, wurden dann einfach völlig kampflos an die Islamisten übergeben.
Wie ist es möglich? Auf dem Papier dürften die Taliban eigentlich keine Chance gegen die afghanischen Streitkräfte haben. 300 000 Mann sind die Sicherheitskräfte stark, Polizei und Armee. Die Schätzungen zu den Taliban-Kämpfern liegen zumeist bei rund 60 000. Die afghanische Armee ist zudem besser ausgerüstet.
Die Islamisten aber sind gewieft. Sie profitieren von ihrem brutalen Ruf, den sie sich während ihrer Schreckensherrschaft in den 1990er-Jahren mit öffentlichen Exekutionen oder Auspeitschungen verdient haben. Und sie haben viele weitere Wege gefunden, um Druck auf die Sicherheitskräfte auszuüben.
Begonnen hatte das Wegbrechen der Provinzhauptstädte am Freitag vergangener Woche mit der kleinen, aber wichtigen Stadt Sarandsch im Westen an der Grenze zum Iran. Tags zuvor hatten die Taliban den Bezirk Kang im Norden der für Schmuggel bekannten Stadt erobert. Es tauchten Bilder in sozialen Medien auf, die mehrere offensichtlich nach ihrer Gefangennahme exekutierte Soldaten zeigten. Ihre Hände waren gefesselt. Andere zeigten Soldaten, deren Augen ausgestochen waren.
Als die Islamisten dann später auf das rund 30 Kilometer entfernte Sarandsch vorrückten, waren die meisten Sicherheitskräfte schon getürmt. Auch einfache Soldaten nutzen heute Facebook und Whatsapp – und die Taliban, offenbar mittlerweile Meister psychologischer Kriegsführung, wissen das.
In sozialen Medien dokumentierten sie auch noch jede so kleine Truppe an Soldaten, die sich ihnen in den abgelegensten Bezirken ergaben. Je länger ihre mit Abzugsbeginn der US-Truppen Anfang Mai gestartete Offensive andauerte, desto länger und beeindruckender wurden auch die Videos der kapitulierenden Soldaten, die in langen Schlangen aus ihren seit Wochen umzingelten Basen liefen.
Mit den Videos demütigten sie ihre Gegner öffentlich. In Afghanistan will kein Mann als Feigling gelten. Mit den hunderten veröffentlichten Kapitulationen senkten die Taliban aber gleichzeitig auch bei den Soldaten und Polizisten die Scham, sich zu ergeben. In Gebieten, die sie kontrollieren, besuchen Taliban-Kämpfer zudem die Familien von Soldaten. Sie setzen Mütter unter Druck, ihre Kinder in Uniform zum Aufgeben zu überreden.
Andernorts hatten die Sicherheitskräfte oft gar keine große Wahl. Lokale Politiker, Älteste oder Stammesführer einigten sich über ihren Kopf hinweg mit den Taliban auf eine Kapitulation. Auch die USA, die die Streitkräfte jahrelang trainiert hatten, dürften eine Mitschuld an dem Schlamassel tragen. Sie hätten die afghanische Armee, sagt ein junger Offizier, nicht ausreichend für den Krieg gegen Guerillas wie die Taliban ausgebildet und ausgestattet. Vielmehr seien sie nach dem Vorbild der US-Armee auf konventionelle Kriegsführung vorbereitet worden.