Karlsruhe/Berlin – Die umstrittene Wahlrechtsreform der Großen Koalition bleibt zur Bundestagswahl in Kraft, wird aber danach vom Bundesverfassungsgericht unter die Lupe genommen. Die Karlsruher Richter halten es zumindest für möglich, dass die Neuregelung nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, wie sie am Freitag mitteilten. Sie lehnten es jedoch ab, die Änderungen mit sofortiger Wirkung aufzuheben. Das hatten die Abgeordneten von FDP, Linken und Grünen per Eilantrag erreichen wollen. (Az. 2 BvF 1/21)
Für die Bürger, die am 26. September wählen gehen, ändert sich nichts. Gestritten wird darum, nach welchen Regeln ihre abgegebenen Stimmen in Mandate umgerechnet werden.
Denn der Bundestag ist mit inzwischen 709 Sitzen zu groß geworden und braucht eine Schrumpfkur – darin sind sich alle Parteien einig. Ein großes Parlament kostet den Steuerzahler nicht nur mehr Geld, es ist auch weniger arbeitsfähig. Aber über das Wie der Verkleinerung wird seit Jahren gestritten, denn keine Partei will politisch an Einfluss verlieren. Eine Kompromisslösung, die alle mittragen wollten, war in zwei Wahlperioden trotz mehrerer Anläufe nicht zustande gekommen. Im Oktober 2020 hatten Union und SPD schließlich im Alleingang eine Wahlrechtsänderung beschlossen, die auch viele Experten für unzureichend halten. Denn bei den derzeit 299 Wahlkreisen soll es zunächst bleiben. Eine größere Reform ist erst für die Wahl 2025 geplant. Dafür soll eine Kommission bis Mitte 2023 Vorschläge machen.
Ob der nächste Bundestag wirklich kleiner wird, ist damit mehr als fraglich. Nach Berechnungen des Wahlrechtsexperten Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung könnte das Parlament, wenn es ganz dumm läuft, sogar auf mehr als 1000 Abgeordnete anwachsen. Nach der Neuregelung werden Überhangmandate einer Partei teilweise mit ihren Listenmandaten verrechnet. Bis zu drei Überhangmandate werden nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert, wenn der Bundestag seine Soll-Größe überschreitet. Diese ist bei 598 Sitzen festgelegt.
FDP, Linke und Grüne hatten gemeinsam einen Alternativentwurf vorgelegt, der nur 250 Wahlkreise vorsah, sich damit aber nicht durchsetzen können. Anfang Februar reichten sie dann in Karlsruhe einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle ein. Bei der schwarz-roten Reform sehen die drei Oppositionsfraktionen mehrere Probleme: Die Regelungen seien unklar formuliert, außerdem verstießen sie gegen die im Grundgesetz verankerten Prinzipien der Chancengleichheit der Parteien und der Wahlrechtsgleichheit.
Und die Verfassungsrichter des zuständigen Zweiten Senats ziehen zumindest in Erwägung, dass diese Einwände nicht unberechtigt sind: Der Normenkontrollantrag sei „weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet“, hieß es.