München – Die dramatischen Szenen am Flughafen von Kabul wühlen auch die Politik in Deutschland auf. Die Kritik an der Bundesregierung ist scharf: Hätte man früher reagieren müssen? Wurden Warnungen der Botschaft in Kabul nicht gehört?
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte gestern Abend, die Entwicklung sei „bitter, dramatisch und furchtbar“ für die Menschen in Afghanistan. Der fast 20 Jahre währende Einsatz sei „nicht so geglückt, wie wir uns das vorgenommen haben.“ Die Bundesregierung werde nun „alles in ihrer Macht Stehende“ tun, um die Mitarbeiter deutscher Stellen auszufliegen. Doch ob die Evakuierungen der verbliebenen afghanischen Ortskräfte glücke, hänge „von der Lage in Kabul ab“. Merkel sagte: „Das haben wir leider nicht mehr voll in der Hand.“ Wie zuvor Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) räumte auch die Kanzlerin ein, dass die Bundesregierung die Entwicklung in Afghanistan „falsch eingeschätzt“ habe – ebenso wie ihre westlichen Partner.
Neben Ortskräften, von denen sich laut Merkel 1900 bereits in Deutschland befinden, sollen auch Menschen gerettet werden, die mit deutschen Entwicklungshilfeorganisationen und Nichtregierungsorganisationen wie der Welthungerhilfe zusammengearbeitet haben. Zuvor hatte Merkel im CDU-Vorstand gesagt, inklusive Angehöriger gehe es um insgesamt bis zu 10 000 Menschen.
Merkel rechnet außerdem mit einer steigenden Zahl von Flüchtlingen. Man müsse jetzt „alles tun“, um die Nachbarn Afghanistans bei der Aufnahme zu unterstützen. Die Kanzlerin machte am Abend aber deutlich, dass Deutschland nicht vorhabe, über „diejenigen, die uns sehr direkt geholfen haben“ hinaus eine größere Zahl von Flüchtlingen aus Afghanistan aufzunehmen.
„Handeln jetzt, ohne Zögern!“, twitterte Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) wenige Stunden nach der Machtergreifung der Taliban. „Der Westen muss verlässlich sein.“ Man dürfe diejenigen, „die in den vergangenen 20 Jahren vor Ort als Helfende und Unterstützende zu Freunden und Verbündeten geworden sind“, nicht im Stich lassen. Der Appell des Parteivorsitzenden löste Entrüstung aus. Mehrere Nutzer erinnerten an einen Antrag der Grünen im Bundestag vom 23. Juni: Die Fraktion hatte gefordert, ein Verfahren zur „großzügigen Aufnahme afghanischer Ortskräfte einzuführen“. Die GroKo und die AfD lehnten das ab. Gestern erklärte CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter: „Es war ein großer und gravierender Fehler, den Antrag der Grünen – aus Prinzip – abzulehnen. Punkt.“
Auch die deutsche Botschaft in Kabul kritisierte, dass sie das Auswärtige Amt wochenlang vergeblich vor einer Gefährdung ihres Personals gewarnt hatte. Laut ARD sagte Vize-Botschafter Hendrik van Thiel, „dass den dringenden Appellen der Botschaft über längere Zeit erst in dieser Woche Abhilfe geschaffen“ worden sei. „Wenn das an irgendeiner Stelle diesmal schiefgehen sollte, so wäre dies vermeidbar gewesen“.
FDP-Chef Christian Lindner forderte Transparenz: „Gab es tatsächlich Hinweise aus der Botschaft? Und falls ja, warum wurden diese nicht ernst genommen?“ Die Regierung trage die Verantwortung für die Evakuierungen – und für Verzögerungen. FDP-Außenexperte Alexander Graf Lambsdorff sagte der „Welt“, Außenminister Heiko Maas (SPD), Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) hätten „auf ganzer Linie versagt“.
Auch Laschet ließ Kritik an der Regierung erkennen: „Die Rettungsaktion ist längst überfällig.“ KATHRIN BRAUN