München – Lange waren die Australier stolz auf ihre Corona-Bilanz. Nur 47 000 registrierte Fälle und weniger als 1000 Tote im Zusammenhang mit Covid-19 zählt das Land. Die Inzidenz je 100 000 Einwohner liegt bei 188, wohlgemerkt nicht für die letzten sieben Tage, sondern für die gesamten 17 Monate seit Pandemiebeginn. Die von der Johns-Hopkins-Universität ausgewiesene Vergleichszahl für Deutschland: 4662.
Als Erfolgsgeheimnis der Australier galt ein rigider Null-Covid-Kurs. Die Insellage ermöglichte eine Abschottung nach außen. Ausländer durften ab März 2020 kaum noch ins Land. Auch Australier konnten nur beschränkt aus- und einreisen. Tauchten dennoch irgendwo Corona-Fälle auf, wurden sofort Lockdown-Maßnahmen für ganze Landesteile verhängt. Infektionsherde waren meist schnell eingedämmt. Die Beschränkungen galten oft auch nur für ein oder zwei Wochen.
Insgesamt verkraftete das Land diesen Weg auch wirtschaftlich recht gut. Und Umfragen zufolge attestierten bis zu 95 Prozent der Australier ihrem Land noch in der ersten Jahreshälfte 2021 einen guten oder sogar sehr guten Umgang mit der Pandemie. Viele Australier wiegten sich in Sicherheit. Das Ansteckungsrisiko war gering – allerdings auch die Impfbereitschaft. Mit dem Aufkommen der Delta-Variante wird das zum Problem.
Im Bundesstaat New South Wales mit der Metropole Sydney gelten seit Ende Juni strenge Kontaktbeschränkungen. Dennoch stiegen die Fallzahlen weiter und explodieren nun. Allein am Donnerstag meldete New South Wales über 1000 Neuinfektionen. Nun wird die Impfkampagne zum Wettrennen mit der Delta-Variante – und mit der Geduld der Australier.
Vor zwei Monaten, als weite Landesteile in den vielerorts bis heute geltenden Lockdown gingen, wurden rund 800 000 Impfstoffdosen pro Woche verabreicht, zuletzt waren es schon 1,8 Millionen Spritzen in einer Woche. Doch der Aufholbedarf ist immens. Bislang sind erst etwa 25 Prozent der Bevölkerung voll immunisiert, die Hälfte hat eine Erstimpfung.
Premierminister Scott Morrison deutete am Wochenende erstmals eine Abkehr von der Null-Covid-Strategie an. Man werde künftig eher darauf achten, wie viele Menschen wirklich schwer erkranken. Als Voraussetzung für den Strategiewechsel sieht Morrison allerdings eine Impfquote von 70 Prozent voll geimpfter Einwohner.
Dieses Impfziel wird erst in einigen Monaten erreicht sein. Doch die Bereitschaft der Australier, den Lockdown-Kurs mitzugehen, bröckelt. Morrisons Regierung wird in Umfragen seit Juni zunehmend weniger Kompetenz in der Pandemiebekämpfung zugesprochen. In Sydney kam es am vergangenen Samstag zu Protesten mit hunderten Festnahmen. Die Regierungschefin von New South Wales, Gladys Berejiklian, sagte jetzt, die Delta-Variante habe ein Null-Covid-Ziel „völlig unrealistisch“ gemacht. Die Abkehr erfolgt aber in kleinen Schritten.
Erste Lockerungen kündigte Berejiklian für Mitte September an. Voll Geimpfte dürfen sich dann in Gruppen von bis zu fünf Menschen draußen treffen – jedoch nur im Umkreis von fünf Kilometern um ihren Wohnsitz. Erst bei 70 Prozent Impfquote würden Beschränkungen umfangreich zurückgenommen, für Ungeimpfte erst bei 80 Prozent Impfquote.
Auch Neuseeland hatte bislang auf Abschottung nach außen und harte Maßnahmen beim kleinsten Aufflammen eines Infektionsherdes gesetzt. Nun scheint das erstmals ins Leere zu laufen. Nachdem Mitte August nach Monaten erstmals wieder ein Corona-Fall nachweislich innerhalb des Landes übertragen wurde – es war zudem ein Delta-Fall –, mussten landesweit Läden, Restaurants und Kultureinrichtungen für mehrere Tage schließen. Als eine Woche später die Zahl der Fälle auf über 30 gestiegen war – inzwischen sind es über 100 –, erklärte die Regierung, die bisherige Strategie stehe für die Zukunft infrage. Auch Neuseeland hat das Problem einer niedrigen Impfquote.