München – Am Tag danach ist die Lage in Hagen angespannt, aber unter Kontrolle. Vor der Synagoge krakeelt ein offenbar verwirrter Mann die Polizisten an, minutenlang geht das so, doch die Beamten lassen die Tiraden stoisch über sich ergehen. Verglichen mit dem, was hätte sein können, ist der Vorfall harmlos.
Wie knapp man in Hagen tatsächlich einer Katastrophe entgangen ist, lässt sich noch nicht exakt bemessen. Viele Fragen sind noch offen, doch was bisher bekannt ist, deutet darauf hin, dass die Stadt am Rande des Ruhrgebiets am Mittwochabend Schauplatz eines Blutbades hätte werden sollen. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) spricht von einem „sehr ernst zu nehmenden und konkreten Hinweis“ darauf, dass die jüdische Gemeinde Ziel einer „islamistisch motivierten Bedrohungslage“ war.
Dass der Minister gestern bereits einen konkreten Ermittlungserfolg vorweisen kann, ist das Ergebnis einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Ein ausländischer Geheimdienst informierte die deutschen Sicherheitsbehörden am Mittwoch über die akute Gefahr. Die Überwachung eines Internetchats hatte Hinweise auf einen drohenden Anschlag geliefert. Die Informationen des Partnerdienstes seien umfassend gewesen, sagt Reul gegen Mittag: „Tatzeit, Tatort und Täter waren benannt.“
Zu diesem Zeitpunkt sind insgesamt vier Personen festgenommen. Als Hauptverdächtiger gilt ein 16-jähriger Syrer, der in Hagen lebt und 2015 im Rahmen des Familiennachzugs über Beirut nach Deutschland gekommen war. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung werden drei weitere Personen vorläufig in Gewahrsam genommen. Es soll sich bei ihnen um zwei Brüder des Jugendlichen handeln sowie den Vater, der vor sieben Jahren nach Deutschland gekommen sein soll. Die Drei wurden am Abend aber wieder freigelassen.
Nach seiner Festnahme bestritt der 16-Jährige Anschlagspläne. Laut Staatsanwaltschaft gab der Syrer zwar in einer ersten kurzen Aussage zu, dass er sich über den Messengerdienst „Telegram“ von einem Kontaktmann namens Abu Hab den Bau einer Bombe habe erklären lassen. Einen Anschlag auf das jüdische Gotteshaus habe er aber nicht geplant.
Die Staatsschützer und die Anti-Terror-Abteilung der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf versuchen nun anhand der Auswertung des Handys des Beschuldigten seine wahren Absichten nachzuvollziehen.
Wie die Zeitung weiter erfuhr, liegen gegen die Familie des Beschuldigten Staatsschutzerkenntnisse vor. Demnach bewegte diese sich in radikal-islamischen Salafistenkreisen. Ein Sprengsatz wurde bisher nicht gefunden. Inzwischen hat die Zentralstelle Terrorismusverfolgung bei der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf die Ermittlungen wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat übernommen.
Der Termin der geplanten Attacke – am Mittwoch begannen die Feierlichkeiten zu Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Festtag – weckt düstere Erinnerungen. An Jom Kippur 2019 versuchte ein bewaffneter Rechtsradikaler in Halle, gewaltsam in die dortige Synagoge einzudringen. Weil die Eingangstür dem Angriff standhielt, trat er den Rückzug an und erschoss in der Nachbarschaft zwei Menschen und verletzte zwei weitere.
Man müsse weiterhin alles Menschenmögliche für den Schutz jüdischer Einrichtungen tun, sagt Bundesinnenminister Horst Seehofer in Berlin. Er erinnert sich daran, wie nach dem Anschlag von Halle ein junger Mann auf ihn zugekommen sei und ihm bittere Vorwürfe gemacht habe: „Ihr könnt uns nicht schützen!“ Hagen sei nun das Gegenbeispiel, diesmal seien die Sicherheitsbehörden schneller gewesen. „Nie wieder dürfen Jüdinnen und Juden in unserem Land in Angst leben“, so Seehofer. mit dpa