München – Ein wenig absurd ist die Entwicklung schon: Anfang Juli saß Olaf Scholz nur ein paar hundert Meter weiter beim „Sedlmayr“. Gleich am Viktualienmarkt, neben Dieter Reiter am Gehsteig. Die Passanten waren ganz begeistert. „Mensch Dieter“, begrüßte einer nach dem anderen den OB. Scholz saß wie der Praktikant daneben, während der Oberbürgermeister Hof hielt. Der Kanzlerkandidat wurde nicht erkannt – oder nicht beachtet.
Zweieinhalb Monate später ist Scholz der Superstar der Genossen. Die Sozialdemokraten toben, als ihr Held am Samstag die Bühne auf dem Marienplatz betritt. „Der künftige Kanzler der Bundesrepublik“, kündigt ihn SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil an. Und OB Reiter ruft tausenden Münchnern zu: „Olaf Scholz kann’s! Er weiß, wie man regiert.“
Noch eine Woche. Euphorie liegt in der Luft, die Genossen pfeifen und jubeln, als sei die Wahl entschieden. Die neue Insa-Umfrage sieht die SPD bei 26 Prozent – fünf Punkte über der Union, elf über den Grünen. Klingbeil muss den Jubel sogar dämpfen: Wenn man beim Fußball in der 85. Minute führt, breche man das Spiel auch nicht triumphierend ab. „Man versucht alles, um noch ein Tor zu schießen.“
Olaf Scholz kommt aber nicht wie ein Stürmer daher. Seine Taktik ist eher: Konzentriert bleiben, jetzt bloß nichts falsch machen, Zeitspiel. „Ich werde kämpfen für eine Gesellschaft des Respekts“, sagt er nüchtern. Die eine Hand lässig in der Hosentasche, die andere zur Faust geballt, zu jeder Silbe hölzern mitschwingend.
Scholz trägt zum größten Teil das vor, was im Wahlkampf schon oft gesagt wurde – keine neuen Versprechen, stattdessen sollen sich seine Punkte in den Köpfen der Wähler verankern. „Kinder dürfen nicht in Armut aufwachsen“, sagt er, deshalb brauche es ein neues Kindergeld. „Ich garantiere: Es wird keine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters geben.“ Mit ihm als Kanzler bleibe das Rentenniveau stabil. Der Mindestlohn werde auf zwölf Euro angehoben, „das ist das erste, wofür ich mich einsetze“. Zehn Millionen Menschen verdienten dann mehr. Und die SPD würde natürlich „Tempo machen“, damit Deutschland in 25 Jahren klimaneutral wird.
Seine Versprechen gehen ihm wie ein einstudiertes Mantra über die Lippen. Wenig emotional, aber das ist Teil der Strategie. Scholz will mit Kompetenz und Sachlichkeit punkten. Sich von Armin Laschet abheben, der sich, wie Klingbeil die Menschenmenge erinnert, kürzlich bei einem TV-Interview mit zwei Kindern etwas aus der Fassung bringen ließ. „Ich frage mich, wie er dann Erdogan, Putin oder Biden gegenübertreten will“, stichelt der SPD-General.
Der Tag in Bayern ist wichtig für Scholz. Es ist viel zu holen im Freistaat, dem Land mit den zweitmeisten Wählern (nicht zufällig plant auch die Union ihre große Abschlusskundgebung mit Laschet und Merkel am Freitag in München). Zuletzt lief es aber nicht gut für die Genossen. Auch wenn in der Stadt ein SPD-OB regiert – bei den Bundestagswahlen hatten es die Sozialdemokraten immer schwer. Und in den Umfragen für die Landtagswahl sind sie zwischenzeitlich fast ins Bodenlose gestürzt. Einstellig, acht Prozent, da stand die SPD im Freistaat noch vor einem halben Jahr, weit abgehängt von den Grünen.
Scholz betont in München nun seinen Fünf-Punkte-Plan zum Wohnen. „Wir haben ein Problem mit fehlendem bezahlbaren Wohnraum“, sagt er, und trifft vor allem in München damit einen Nerv. Er verspricht, als Kanzler jährlich mindestens 400 000 Wohnungen bauen zu lassen, davon 100 000 Sozialwohnungen. „Leben muss bezahlbar bleiben.“ Die Münchner applaudieren.