Es ist ja nicht so, als seien die Polen der einzige EU-Mitgliedstaat, der juristische Scharmützel mit Brüssel ausficht. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom Mai 2020 zu Anleihekäufen durch die Europäische Zentralbank dem Europäischen Gerichtshof den Fehdehandschuh hingeworfen. Immer noch ist nicht endgültig entschieden, ob europäisches Recht ohne Ausnahme Vorrang vor nationalem Recht hat.
Doch in der Causa gibt es einen gewaltigen Unterschied zwischen Deutschland und Polen: Während die Regierung in Berlin sich stets proeuropäisch positioniert und EU-Vorgaben 1:1 (manchmal leider sogar darüber hinaus) umsetzt, hebelt die Regierung des heimlichen Herrschers Jaroslaw Kaczynski grundlegende Menschenrechte und Regeln der Gewaltenteilung aus. Vor allem die Unabhängigkeit der Justiz und die Medienfreiheit werden von der PiS-Regierung seit Jahren nach klassischer Salamitaktik beschnitten. Erst spät – zu spät? – hat sich die EU-Kommission dazu entschlossen, gegen die Regelverstöße Warschaus mit harten Bandagen wie dem Geldentzug vorzugehen. Das polnische Verfassungsgericht hat seine Entscheidung gestern vertagt. Damit bleibt offen: Kehrt Polen zu europäischen Standards zurück oder geht es mit dem Vormachtanspruch des nationalen Rechts einen weiteren Schritt hin zu jenem Ziel, das die PiS angeblich gar nicht anstrebt: den Pol-Exit.
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