Warum auch der Zweitplatzierte den Kanzler stellen kann

von Redaktion

Willy Brandt und Helmut Schmidt regierten trotz Wahlniederlage – Damals entschied die FDP über das Amt

München – SPD gegen Union, Scholz gegen Laschet: Der Machtkampf hört nicht mit der Bundestagswahl auf – sondern geht gerade erst richtig los. Beide Parteien streben eine Regierungsbildung an. Auch wenn die Sozialdemokraten bei der Wahl die Nase vorn hatten: Es gibt keine Regel, nach der die stärkste Partei im Bundestag den Kanzler stellen muss. Bislang gab es drei Fälle in der Geschichte der Bundesrepublik, in denen es auch der Zweitplatzierte ins Kanzleramt geschafft hat.

Armin Laschet wird sich jetzt ein Beispiel an früheren SPD-Kanzlern nehmen müssen, wenn er trotz seiner Niederlage Regierungschef werden will. Sowohl Willy Brandt als auch Helmut Schmidt sind mit sozialliberalen Koalitionen ins Kanzleramt gezogen, obwohl die Union bei den Bundestagswahlen vorne lag.

Willy Brandt wurde 1969 der erste Kanzler, der nicht der Union angehörte. Die Union erreichte damals 46,1 Prozent, die SPD nur 42,7. Aber Brandt vereinbarte noch in der Wahlnacht mit FDP-Chef Walter Scheel Koalitionsverhandlungen – so kam die erste sozialliberale Regierung schnell zustande. Erst bei der nächsten Bundestagswahl im Jahr 1972 gelang es der SPD mit Willy Brandt an der Spitze, mehr Stimmen als die Union zu ergattern.

Auch die zweite Kanzlerschaft eines Zweitplatzierten war der FDP zu verdanken. Nach Brandts Rücktritt verlor die SPD bei der Bundestagswahl 1976 wieder den Platz 1 an die Union. Die Union rauschte mit 48,6 Prozent mit Helmut Kohl als Kanzlerkandidat sogar knapp an der absoluten Mehrheit vorbei – die SPD hat hingegen nur 42,6 Prozent erzielt. Aber auch dieses Mal hat der Union ihr Wahlsieg nichts gebracht: Die Koalition von SPD und FDP konnte sich behaupten.

So ist es auch bei der nächsten Bundestagswahl 1980 abgelaufen: Unter Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidat holte die Union 44,5 Prozent der Stimmen. Die SPD blieb unverändert hinten – aber profitierte von einem starken Stimmenzuwachs der Liberalen. FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher, der mit seiner Partei 10,6 Prozent der Zweitstimmen einholte, sagt auch hier noch in der Wahlnacht, dass er weiter mit der SPD koalieren möchte. Somit waren die Sozialdemokraten in der gesamten Amtszeit von Helmut Schmidt nie stärkste Kraft.

Auch bei Landtagswahlen kann es dazu kommen, dass die zweitplatzierte Partei die Regierung anführt. Beispiel Bremen: 2019 erzielte die SPD das schlechteste Ergebnis seit mehr als 70 Jahren, stürzte um 7,9 Prozent ab. Die CDU hat erstmals die Sozialdemokraten überholt: Schwarz lag bei 26,7 Prozent, Rot bei 24,9. Trotzdem hat knapp drei Monate später ein rot-grün-rotes Bündnis den Koalitionsvertrag unterschrieben, weil sich die Grünen gegen Gespräche mit CDU und FDP ausgesprochen hatten. Es kam zur ersten Koalition von SPD, Grünen und Linke in einem westdeutschen Bundesland.

Auch bei dieser Regierungsbildung kommt es wohl auf die kleinen Parteien an: Sollte Laschet Grüne und FDP für eine Jamaika-Koalition gewinnen, könnte nach 41 Jahren erstmals wieder ein Kanzler regieren, der nicht der stärksten Partei im Bundestag angehört. Einen großen Unterschied zu den Fällen Brandt und Schmidt gibt es aber: Die FDP hatte von Anfang deutlich gemacht, mit der SPD koalieren zu wollen. Jetzt müsste Laschet zwei Parteien überzeugen, die sich ihre Optionen noch offenhalten wollen. KATHRIN BRAUN

Artikel 1 von 11