Regieren im Halbschatten

von Redaktion

VON MARC BEYER

München – Noch sind sie alle da. Heiko Maas hat gerade eine Klimakonferenz eröffnet, Jens Spahn ruft weiterhin zum Impfen auf, Annegret Kramp-Karrenbauer plant einen Großen Zapfenstreich. Vordergründig hat sich durch das Wahlergebnis für die Kabinettsmitglieder nicht viel verändert. Bis zum 26. Oktober und der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages wird das so gehen, dann erhalten die Minister ihre Entlassungsurkunde. Und dann machen sie weiter.

Artikel 69 des Grundgesetzes regelt den Fall, dass 30 Tage nach der Wahl keine neue Regierung feststeht. Die alte muss dann so lange bleiben, wie es nötig ist. 2009 vergingen nach der Wahl nur 31 Tage, 2017 waren es 171. Offiziell ist von einem „Ersuchen des Bundespräsidenten“ die Rede, tatsächlich aber ist es eine Bitte, die man nicht ablehnen kann. Das Land muss handlungsfähig bleiben.

Es ist eine Art Halbschatten, in dem die Kanzlerin und die Minister als geschäftsführende Regierung ihrer Arbeit nachgehen. Während das Land auf die Koalitionsverhandlungen blickt, halten sie den Laden ganz diskret am Laufen. Gravierende Entscheidungen gibt es keine mehr, doch die vielen kleinen Rädchen im großen Politikbetrieb drehen sich weiter, unabhängig von wechselnden Mehrheiten. Es gibt Verordnungen zu schreiben, Unterlagen zu erstellen, Konferenzen zu besuchen. Auch die Koalitionsverhandlungen brauchen Informationen aus den Ressorts.

Viele Fragen sind in dieser Zeit offen. Solange die Gespräche laufen, ist unklar, wer welches Ministerium übernimmt. Die Zuständigkeit kann wechseln oder eine Partei ganz von der Bühne verschwinden. So wie 2013, als die FDP erstmals den Sprung in den Bundestag verpasste. „Niederschmetternd“ sei das gewesen, sagt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Aber das war nicht der Grund dafür, dass ihr Justizministerium volle drei Monate lang nur noch eine „Dienstleistungsfunktion“ hatte.

Theoretisch hätte eine geschäftsführende Regierung die gleichen Kompetenzen wie eine reguläre, bis hin zum Einbringen eines neuen Bundeshaushaltes. In der Praxis wird es so weit aber nie kommen, weil dafür die Mehrheit im Parlament fehlen würde und es gegen alle guten Sitten verstoßen würde, den Spielraum der folgenden Regierung einzuengen. „Vielleicht gibt es noch ein paar 08/15-Beförderungen, die keine herausgehobenen Ämter betreffen“, sagt Leutheusser-Schnarrenberger. Aber nichts Größeres. „Das gehört sich einfach nicht.“

Regierungswechsel sind eine Zeit der Veränderung, auf allen Ebenen. Es gibt geschäftsführende Minister, die sich für langjährige Mitarbeiter einsetzen und Anschlussjobs in anderen Abteilungen vermitteln. Daniel Bahr hat aber auch Ressortchefs erlebt, „die überhaupt nicht mehr im Ministerium gesehen wurden“. Er selber ließ 2013 mal eine Morgen-Lage ausfallen, um mit der Familie zu frühstücken, ist aber ansonsten weiter pflichtbewusst ins Gesundheitsministerium gekommen. Obwohl auch er zu den fünf FDP-Leuten gehörte, für die damals mehr als nur eine Legislaturperiode endete.

Es hätte ja etwas Unvorhersehbares passieren können. „Jetzt stellen Sie sich mal vor, es kommt ein Virus“, sagt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Bahr hat in seiner regulären Amtszeit gleich zu Beginn mit einer EHEC-Epidemie zu tun gehabt. „Da habe ich später auch überlegt: Was, wenn du jetzt noch mal in so eine Phase kommst?“

Am Tag nach dem Wahlabend hat sich die Politik in einen Schwebezustand begeben. Es wird gestritten, gelitten, sondiert. Nicht wenige Politiker glauben, dass die nächste Neujahrsansprache noch mal ein Fall für Angela Merkel wird. Daniel Bahr kann sich aber vorstellen, dass die anstehenden Aufgaben ein Anreiz sind, sich zu sputen. Am 1. Januar übernimmt Deutschland die Präsidentschaft unter den G7-Staaten. Er vermutet in den Parteizentralen „einen hohen Ehrgeiz, dass nicht Frau Merkel die übernehmen muss“.

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