Washington – Wer begreifen will, warum sich Joe Biden in seinem ersten Jahr als US-Präsident so schwertut, sollte einen Blick zurück zu den Vorwahlen der Demokraten werfen. Was heute gerne vergessen wird: Biden war schon damals, als der Auswahlprozess begann, kein besonders populärer Kandidat.
Anders als Barack Obama fehlten ihm die Strahlkraft und das rhetorische Geschick – sodass seine Berater ihm so wenig öffentliche Auftritte wie möglich empfahlen. Schnell witzelten Medien dann über Biden als „Keller-Bewerber“, der vom Untergeschoss seiner Villa aus Wahlkampf betreibe.
Dann fanden Partei-Demoskopen heraus, dass der damals 77-Jährige die besten Chancen habe, Trump zu schlagen – was dann zu diesem Phänomen führte: Fast die Hälfte aller Wähler stimmte für Biden nicht aufgrund seiner Qualifikation oder Persönlichkeit, sondern des „Anti-Trump“-Faktors. Vor allem die progressive Linke – sonst in Bidens Mitbewerber Bernie Sanders verliebt – stellte sich zähneknirschend hinter den Spitzenkandidaten. Auch mit dem Hintergedanken: Wenn Biden im Weißen Haus ist, muss er uns belohnen.
Und nun soll Zahltag für die Progressiven sein. Biden war einer Zerreißprobe ausgesetzt, wurde zum Spielball der beiden Parteiflügel. Beispiel Afghanistan: Die extreme Linke der Demokraten im Kongress setzte Biden massiv unter Druck, jedes US-Militärengagement auf fremdem Boden zu beenden. Dieser Antikriegs-Pusch dürfte eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung Bidens gespielt haben, nicht auf seine Generäle oder auf Verteidigungsminister Lloyd Austin zu hören: Entgegen ihrer Empfehlung hat er nicht einmal ein Minimal-Kontingent von 2500 Soldaten am Hindukusch belassen.
Die dramatischen Folgen bekommt Biden jetzt zu spüren. 59 Prozent der Bürger sind einer Quinnipiac-Umfrage zufolge derzeit nicht mit seiner Außenpolitik zufrieden. 52 Prozent sehen ihn als Oberkommandierenden der Weltmacht extrem kritisch. 60 Prozent der Befragten glauben zudem, dass die USA nach Afghanistan zurückkehren müsse.
Der mit 78 Jahren älteste Präsident aller Zeiten bietet noch jede Menge weitere Angriffsflächen. An der Südgrenze werden bald tausende weitere Migranten vor allem aus Haiti erwartet – nachdem der überforderte Grenzschutz zuletzt mindestens 12 000 Haitianer ungetestet und ungeimpft ins Land ließ. Die Opferzahlen durch Schusswaffen-Kriminalität sind nicht zurückgegangen. Bidens wichtigstes innenpolitisches Projekt – ein massives Förderpaket für die Infrastruktur in den USA – hing bis zuletzt am seidenen Faden, nachdem die Demokraten über Inhalte und Eckpunkte tief zerstritten waren. So wie einst Trump der Faktor war, der die Republikaner als Partei zusammenhielt, so ist Biden – und das wird immer klarer – alles andere als eine einende Figur.
Das könnte auch Folgen für die Kongress-Zwischenwahlen 2022 haben, bei denen die Demokraten ihre knappen Mehrheiten verteidigen wollen. Die schlechten Umfragewerte des Präsidenten führen auch dazu, dass sich Biden-Sprecherin Jen Psaki am Donnerstag bei der Pressekonferenz im Weißen Haus sogar die Frage gefallen lassen musste, ob der Präsident die Kontrolle über die politischen Vorgänge verloren habe. Psaki versuchte sich, so stark bedrängt, an einer diplomatischen Antwort mit Anspielung auf die Metzger-Branche: Das Herstellen von Würstchen sei eben manchmal eine schmutzige Angelegenheit.