„Für den IS sind die Taliban Verräter“

von Redaktion

München – Die Terrorgruppe IS hat sich zu einer Reihe von Anschlägen in Afghanistan bekannt. Der afghanische IS-Ableger „Islamischer Staat Provinz Khorasan“ (IS-K) und die Taliban bekriegen sich schon seit Jahren – obwohl die beiden dschihadistischen Gruppen ähnlich ticken. Yan St-Pierre ist Berater für Terrorismusbekämpfung. Im Interview erklärt er die Rivalität zwischen den Gruppen.

Herr St-Pierre, die Taliban und der IS haben ähnliche radikalislamische Werte – warum betrachten sie sich dennoch als Feinde?

Viele Anhänger des IS betrachten die Taliban als Verräter. Einige Mitglieder des IS-K sind sogar ehemalige Taliban. Sie haben die Gruppierung gewechselt, weil sie mit der Herangehensweise der Taliban unzufrieden geworden sind. Die Taliban haben sich seit ihrer Herrschaft in den 90er-Jahren verändert: Sie wollen als Regierung anerkannt werden, weshalb sie sich friedlicher zeigen und auch mit westlichen Mächten kooperieren wollen. Das sehen andere islamistische Organisationen nicht gerne. Die Taliban erwecken den Eindruck, dem Islam nicht treu zu sein.

Also sind die Taliban dem IS nicht radikal genug?

Richtig, aus Sicht der IS-Anhänger müssten die Taliban ein strengeres Verständnis vom Islam haben. Der IS macht keine Kompromisse in der Anwendung der Scharia. Homosexuelle werden von Dächern geworfen, Frauen dürfen nicht ohne männliche Begleitung das Haus verlassen. Hingegen sehen die Taliban heutzutage in der Auslegung der Scharia einen Spielraum. Sie machen öffentlich Versprechen, dass auch Mädchen eine Ausbildung machen können. Trotz dieses Spielraums bleibt die Interpretation und Anwendung der Scharia natürlich streng.

Verfolgen nicht alle dasselbe Ziel – den Dschihad, also den heiligen Krieg?

Auch hier haben die Taliban und der IS unterschiedliche Interpretationen vom Dschihad. Die Taliban kämpfen gegen lokale Feinde – in den letzten 20 Jahren waren das vor allem die Nato, die Nord-allianz und Russland. Für den IS ist der Dschihad ein globales Thema: Der Feind ist überall. Deshalb verübt er auch in Europa, Südostasien und in Afrika Anschläge.

Aber warum bekriegen sich zwei sunnitische Gruppierungen – wenn doch vor allem Schiiten und Amerikaner als Feinde der Sunniten gelten?

In der Theorie eine berechtigte Frage. Aber in der Theorie sollte es auch keine Zusammenarbeit zwischen Schiiten und Sunniten geben. Und trotzdem findet so etwas statt. Auch bei den Taliban: Sie arbeiten immer wieder mit Iranern, also Schiiten, zusammen. Da geht es um politische Interessen – natürlich spielt Macht eine große Rolle.

Hört sich so an, als sei der Dschihad nur eine Tarnung für einen Krieg um Territorium und Macht.

Es ist eine Mischung aus beidem, kein Entweder-oder. Es gibt viele Gründe, weshalb dschihadistische Gruppen gegeneinander kämpfen: politische, religiöse, zwischenmenschliche. Manchmal geht es auch um persönliche Rivalitäten einzelner Akteure.

Kürzlich hat der IS einen Anschlag auf die Trauerfeier für die Mutter eines Taliban-Funktionärs verübt. War das so ein Fall?

Das kann eine Rolle gespielt haben, auch wenn die politische Prominenz des Taliban-Funktionärs ebenfalls wichtig war. Das ist ein Fall, der gut zeigt, wie viel strenger der IS den Islam im Vergleich zu den Taliban interpretiert. Der IS hat auch alle Angehörigen seiner Feinde, ihre Familien, ihr ganzes Netzwerk im Visier. Aus ihrer Sicht sind das keine richtigen Muslime, deshalb darf man sie töten.

Wie groß sind die beiden Gruppen?

Schätzungen sind nicht einfach, aber der IS-K ist eine recht kleine Gruppe. Da geht es um ungefähr 3000 Mitglieder. Die Taliban setzen sich aus vielen verschiedenen Gruppen zusammen – sie sind keine homogene Organisation, sondern bilden sich aus Stämmen. Da reden wir von Zehntausenden.

Die Taliban sind größentechnisch überlegen – können sie auch ihre Leute kontrollieren?

Schwierig. Die Taliban-Führung kann zwar eine grobe Linie vorgeben, aber in der Realität weichen die Mitglieder oft von den Vorgaben ab aufgrund von lokalen Erfordernissen. Neben ihren Feindschaften mit anderen Dschihadisten haben die Taliban auch mit eigenen Dynamiken zu kämpfen. Interview: Kathrin Braun

Artikel 5 von 11