„Jeder darf den Koalitionsvertrag brechen“

von Redaktion

München – Allein logistisch ist es schwer vorstellbar: 300 Politiker, die alle an einem Ampel-Vertrag tüfteln. Was genau die 22 Arbeitsgruppen von SPD, Grünen und FDP hinter verschlossenen Türen verhandeln, weiß niemand. Fest steht nur: Alle Streitpunkte sollen so bald wie möglich durchgekaut sein – damit die Fast-Regierungsparteien Anfang Dezember den Koalitionsvertrag unterschreiben können. Aber wie bindend ist diese Unterschrift? Martin Gross, Politikwissenschaftler an der LMU München, meint: gar nicht. Rechtlich verpflichten sich die Parteien zu nichts. Im Interview erklärt er den Vertrag, der gar kein Vertrag ist.

Herr Gross, Verträge sind in der Regel bindend – meißeln SPD, Grüne und FDP gerade die Politik der nächsten Jahre in Stein?

Der Begriff Koalitionsvertrag ist ein wenig irreführend. Es geht dabei nicht um einen Vertrag, wie wir ihn im juristischen Sinne kennen. Er ist rechtlich nicht bindend. Die beteiligten Parteien einigen sich zwar auf gemeinsame Ziele, gewisse Regeln und teilweise auch auf die Ämter, die sie verteilen wollen – aber eigentlich darf den Vertrag jeder brechen.

Ohne Konsequenzen?

Man kann keine Punkte aus dem Koalitionsvertrag einklagen. Juristisch gesehen kann also nichts passieren. Politisch gesehen wäre das aber der Selbstmord einer Partei.

Weil man das Vertrauen der Wähler verliert?

Das wäre der wichtigste Punkt. Es geht aber auch um das Vertrauen der Koalitionspartner: Wenn sich eine Partei nicht an Vereinbarungen hält, warum sollten es die anderen tun? Und spätestens bei der nächsten Wahl werden Parteien abgestraft. Wir wissen aus Untersuchungen, dass die Parteien, die Wahlversprechen gebrochen oder Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag nicht eingehalten haben, deutlich geringere Chancen haben, anschließend wieder in der Regierung zu landen.

Wann war das der Fall?

Zum Beispiel in der schwarz-gelben Koalition 2009. Die FDP hatte Steuersenkungen versprochen, die ausgeblieben sind. Und dann senkte sie den Steuersatz für Übernachtungen in Hotels, kurz nachdem sie eine Großspende von der Mövenpick-Hotelgruppe erhalten hatte. Da war klar, dass es um reine Klientel-Wirtschaft geht. Das hat die FDP bei der Wählerschaft unglaubwürdig gemacht – bei der nächsten Wahl ist sie aus dem Bundestag geflogen.

Wie viele Versprechen setzen Regierungen üblicherweise um?

Das schwankt stark. Um das herauszufinden, müssen die Versprechen sehr konkret formuliert sein. Man kann nicht messen, wenn es im Koalitionsvertrag heißt: Wir wollen weniger soziale Ungerechtigkeit. Aber wenn die Quote an Hartz-IV-Empfängern auf eine bestimmte Zahl gesenkt werden soll, lässt sich gut erfassen, ob das umgesetzt wurde. Wenn es gut läuft, erfüllen Regierungen 80 Prozent des Vertrags.

Laut Bertelsmann-Stiftung hat die Große Koalition 80 Prozent erfüllt.

Das ist ein sehr guter Wert. Aus Umfragen wissen wir allerdings, dass die Bevölkerung diesen Wert viel niedriger schätzt. Das liegt daran, dass die Wählerschaft die verschiedenen Versprechen nicht gleichwertig gewichtet, sondern eher auf plakative Themen fokussiert ist. Ein Beispiel aus den Sondierungsgesprächen kürzlich ist das Tempolimit. Die Grünen könnten neun von zehn Punkten umsetzen, letztlich gibt es immer einen großen Teil der Wählerschaft, der meint: Das Tempolimit war zentral und wurde nicht erfüllt, also halten sich die Grünen nicht an Versprechen.

Wie konnte die letzte Regierung so viele Versprechen halten, obwohl Corona dazwischenkam?

Weil sie sehr viele Punkte bereits vor Corona zügig abgearbeitet hat, vor allem die SPD. Große Versprechen werden meist in den ersten zwei Jahren der Regierung umgesetzt. Immerhin soll die Bevölkerung noch vor der nächsten Wahl die positiven Effekte spüren. Eine Rentenreform setzt man nicht erst sechs Wochen vor der Bundestagswahl um. Und dazu kommt: Der Koalitionsvertrag der GroKo war ohnehin recht ambitionslos – da ging es nicht um große Visionen. Vieles, was aus dem alten Koalitionsvertrag noch nicht abgearbeitet war, ist einfach im neuen gelandet.

Macht ein Koalitionsvertrag die Regierung nicht unflexibel? Etwa bei unerwarteten Krisen?

Das kommt drauf an, wie stark die Krise ist. Die globale Finanzkrise und die Corona- Pandemie kamen quasi aus dem Nichts – ein externer Schock. Da ist es klar, dass sich die Regierung nicht mehr nur mit den Punkten aus dem Koalitionsvertrag aufhalten kann und spontan reagieren muss. Ansonsten hat der Koalitionsvertrag aber schon eine starke Bindekraft. Etwa bei den steigenden Benzinpreisen: Die GroKo hat nun mal eine CO2- Bepreisung beschlossen. Dass es jetzt starken Protest gibt, muss die Regierung aushalten. Interview: Kathrin Braun

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