WIE ICH ES SEHE

Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen

von Redaktion

Nun ist es wieder so weit an diesem verlängerten Wochenende. Nach dem protestantischen Reformationstag morgen feiern wir Montag Allerheiligen und Dienstag Allerseelen. Der für die protestantische Welt maßgebliche Totensonntag folgt am 21. November. So wie es in diesen Tagen auf unseren Friedhöfen lebendig wird, treten uns unsere lieben Toten wieder näher in der Erinnerung.

Aber merkwürdig: Auf meinem Heimatfriedhof, wo ich unser Familiengrab besuche, wird es links wie rechts von unserem Gräberfeld immer leerer und einsamer. Wo früher Grabstellen waren, ist jetzt nur noch geschorener Rasen. Die Friedhofsverwalter wissen, woran das liegt. Vielen sind heute die Kosten zu hoch für eine eigene Grabstelle. Sterbende wollen anonym begraben werden, oder in einem Friedwald. Tüchtige Waldbesitzer haben das schon längst organisiert mit Bäumen um eine Lichtung herum, die man sich selber zu Lebzeiten aussuchen kann. Dort erscheint dann nach dem Tode nur ein kleines Namensschild der Erinnerung als bescheidenes Denkmal. Dagegen ist selbstverständlich nichts einzuwenden, denn wir können unseren Toten ja überall begegnen in Gedanken. Unsere frommen Vorfahren dagegen wollten unbedingt an geweihter Stätte ruhen, möglichst nahe an den Kirchen, um bei der Auferstehung am jüngsten Tage am Ende nicht übersehen oder vergessen zu werden.

Was über den christlichen Glauben hinausgeht, dazu fand ich in diesen Tagen „Das Vermächtnis“. Ein Gedicht, das der 80-jährige Goethe verfasst hat:

„Kein Wesen kann zu         Nichts zerfallen!

Das Ewige regt sich

fort in allen,

am Sein erhalte

Dich beglückt!“

Das meint nicht im christlichen Sinne die Person, sondern das Sein, zu dem wir gehören, das ewige Gesetz, in dem jeder lebendige Schatz bewahrt bleibt.

Bei aller Trauer und Nähe zu unseren Toten haben wir dankbar zu sein, dass es das Leben gibt und uns beglückt halten am Sein, das uns mit allem verbindet.

Eine wirklich zu bewundernde Geschichte der Widerstandskämpferin Mildred Harnack verbindet sich mit diesen Goethe-Zeilen. Am Morgen ihrer Hinrichtung in Berlin-Plötzensee am 16. Februar 1943 findet sie der Pfarrer der Anstalt damit beschäftigt, genau dieses Gedicht von Goethe in ihre Muttersprache Englisch zu übertragen. Das Blatt mit ihren handschriftlichen Übersetzungsvermerken hat sich bis heute erhalten und ist abgedruckt in einem neu erschienenen Buch über Mildred Harnack. Sie gehörte zu der Widerstandsgruppe Rote Kapelle, die mit Moskau zusammengearbeitet hatte.

Fast 80 Jahre sind nun vergangen seit diesem Hinrichtungstag einer idealistischen Widerstandskämpferin. Deren Beispiel aber von tapfererem Gleichmut bis zuletzt beschäftigt im Angesicht des Todes ist unvergänglich. Wenn wir nun unsere Toten wieder besuchen, dann denken wir auch daran, wie tapfer und gefasst sie den Tod angenommen haben in der Gewissheit des Glaubens an die Auferstehung oder im philosophischen Glauben eines Goethe und einer Widerstandskämpferin Mildred Harnack. Weiter bringt es kein Mensch, stell´ er sich, wie er nur mag.

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VON DIRK IPPEN

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