Warschau – Im Streit zwischen der EU und Polen um die polnische Justizreform hat Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in einem Beitrag, der unserer Zeitung vorliegt, noch einmal den Standpunkt seiner Regierung klargemacht.
Der Premier zeichnet darin zunächst ein Gesamtbild der Europäischen Union, die sich international in einer „heiklen Lage“ befindet: die Bekämpfung der Corona-Pandemie und die Aufgabe des wirtschaftlichen Wiederaufbaus; der wachsende Druck auf Europa durch Russland, das Gas als erpresserische Waffe gegen einzelne Staaten einsetzt; oder das Migrationsproblem an der Ostgrenze, wo Polen, Litauen und Lettland täglich mit Provokationen aus Weißrussland konfrontiert sind.
Doch statt sich um diese realen Probleme zu kümmern, so sieht es der polnische Regierungschef, beschäftige sich die EU lieber mit „imaginären, selbst geschaffenen“ Problemen. Wie dem Streit um das jüngste polnische Verfassungsgerichtsurteil, „in dem das Verhältnis zwischen EU-Recht und (nationaler) Verfassung untersucht“ wurde. Das sei, so der Premier, nichts Besonderes. „Gerichte in Deutschland, Dänemark, Frankreich, Italien, Spanien, Litauen, der Tschechischen Republik und anderen EU-Ländern haben sich bereits in einem ähnlichen Ton ausgesprochen.“
Das sieht man in der EU völlig anders. Gerade hat der EuGH in Luxemburg Polen zu einer horrenden Geldstrafe verurteilt, sollte es die umstrittene Disziplinarkammer für Richter nicht sofort auflösen. Eine Million Euro soll Warschau für jeden Tag in die EU-Kasse zahlen müssen, an dem es die Vorgaben der EU-Richter nicht umsetzt. Morawiecki pocht aber auf den Vorrang des nationalen Verfassungsrechts und die Souveränität der Staaten als „Herren der Verträge“. Dagegen versuchten „Medien und Politiker“ mit einem Propaganda-Slogan einen „Polexit“ herbeizureden.
Morawiecki widerspricht dem vehement. „Polen will Europa nicht verlassen“, schreibt der Ministerpräsident. Es sei „schwer, eine Nation zu finden, die der Idee der Freiheit, der Demokratie und des europäischen Gedankens mehr verbunden wäre als Polen“. Im polnischen Parlament und öffentlichen Leben seien pro-europäische Kräfte vorherrschend. Aber: Die Achtung der Gemeinschaftsgesetze bedeute nicht, dass sie den nationalen Verfassungen übergeordnet seien. Morawieckis Fazit: „Der Grundsatz des Vorrangs der nationalen Verfassungen ist de facto der Grundsatz des Vorrangs der Demokratie der Staaten gegenüber den EU-Institutionen. Heute beantworten wir die Frage, ob die europäischen Souveräne die Nationen und die Bürger bleiben sollen oder ob die Souveräne zu Institutionen werden sollen. Institutionen aus Brüssel und Luxemburg, die durch ein Demokratiedefizit gekennzeichnet sind. Von dieser Antwort hängt unsere gemeinsame Zukunft ab.“ aw