Russland versinkt im Corona-Chaos

von Redaktion

Mit arbeitsfreien Tagen will Präsident Putin die Situation in den Griff bekommen – Das Volk ist misstrauisch

Moskau – Angesichts dramatisch hoher Corona-Zahlen ist die Kommunikation von Schutzmaßnahmen in Russland mal wieder zur Chefsache geworden. Und der Chef wirkt genervt. Als sich Präsident Wladimir Putin kürzlich an die Bevölkerung wandte, seufzte er erst einmal tief. „Liebe Freunde“, sagte Putin – und erinnerte seine Landsleute daran, dass sie sich doch bitte sofort in Selbstisolation begeben mögen, wenn sie Kontakt mit einem Infizierten hatten. Dann stimmte er dem Vorschlag der Regierung zu: Mindestens eine Woche arbeitsfrei bis zum 7. November verordnete Putin dem ganzen Land.

Während manche europäische Länder mittlerweile Impfquoten von mehr als 80 Prozent aufweisen, wird Russland so hart von der Pandemie getroffen wie nie. Ständig gibt es neue Höchststände. Zum wiederholten Mal infolge registrierten die Behörden zum Wochenbeginn mehr als 40 000 Neuinfektionen und mehr als 1000 Tote binnen 24 Stunden. „So etwas gab es noch nie“, sagt Putin. Die Krankenhäuser sind vielerorts am Limit, Bestatter überarbeitet.

In diesem Desaster versinkt nun ausgerechnet ein Land, das gleich über fünf eigene Vakzine verfügt. Ein Land, das nicht nur den ersten Impfstoff der Welt zugelassen hat, sondern auch den „weltbesten“, wie Putin Sputnik V einst anpries. Doch bis jetzt ist erst rund ein Drittel der 146 Millionen Russen vollständig geimpft.

Auch nach monatelanger Prüfung ist Sputnik V bislang weder von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA noch von der Weltgesundheitsorganisation WHO zugelassen. Viele sind skeptisch. „Das ist mein Körper, da entscheide ich selber, was reinkommt“, sagt ein Moskauer Handwerker. Eine ältere Bürgerin meint, dass sie sich etwa den Biontech/Pfizer-Impfstoff, der in Russland nicht zugelassen ist, gerne spritzen lassen würde – „aber doch bitte nicht Sputnik“.

Dabei mangelt es im größten Land der Erde wahrlich nicht an Impfwerbung – ob nun auf Straßenplakaten oder im Staatsfernsehen. Auch der bekannte Arzt Dennis Prozenko appellierte kürzlich an die Russen, sich immunisieren zu lassen.

Das Misstrauen der Menschen liege zum einen an den offiziellen Zahlen, die die Realität nicht abbildeten, sagt der Statistiker Alexej Rakscha. Zudem hätten hochrangige Politiker ihre Vorbildfunktion zu oft schleifen lassen – etwa beim Maske-Tragen. Putin beispielsweise, der angesichts der aktuellen Lage weder zum G20-Gipfel noch zur Weltklimakonferenz reiste, ist nie mit Mund-Nase-Schutz zu sehen. Einfachen Bürgern hingegen droht eine Strafe, wenn sie ohne Maske erwischt werden.

Und schließlich widersprechen sich Politiker und Beamte zu oft in ihren Empfehlungen, wie Rakscha bemängelt. „Was ist Wahrheit, was ist Lüge – das Volk ist mittlerweile total verwirrt. Und all das ist leider auf sehr fruchtbaren Boden einer postsozialistischen, postsowjetischen Anti-Impfeinstellung gefallen.“

Auch die Politologin Tatjana Stanowaja kritisiert, Putin habe sich weit vom Volk entfernt und wälze Corona-Entscheidungen oft auf Regionen und Regierung ab. Der Präsident wolle vor seiner Bevölkerung als der Gute dastehen, schreibt sie bei Telegram –„auf Kosten des Lebens dieser Bevölkerung“.

In Moskau und St. Petersburg, wo die Lage besonders schlimm ist, hat nun parallel zur arbeitsfreien Zeit ein Teil-Lockdown begonnen, der aber offiziell nicht so heißt. Bis auf einige Ausnahmen sind nur noch Supermärkte und Apotheken geöffnet. Wie es nach der Woche weitergehen wird, ist unklar. Sollten in Restaurants oder im öffentlichen Nahverkehr QR-Codes als Impf- und Genesungsnachweise eingeführt werden, hätten auch Ausländer ein Problem: Viele von ihnen sind nicht im russischen Gesundheitssystem registriert und kommen nicht ohne Weiteres an einen Code.

Immerhin: Die Aussicht auf möglicherweise erforderliche QR-Codes in weiten Teilen des öffentlichen Lebens hat zu einem Anstieg des Impftempos geführt. Das habe sich in den vergangenen Tagen vervierfacht, sagt Gesundheitsminister Michail Muraschko. HANNAH WAGNER

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