München – Die Macht der Kanzlerin mag schwinden, erloschen ist sie noch nicht. Am Mittwoch ließ Angela Merkel über ihren Sprecher ausrichten, sie wolle schnellstmöglich einen Termin für ein Bund-Länder-Treffen finden. Die Pandemie verschärfe sich, es brauche jetzt eine einheitliche Reaktion. Das klang durchaus so, als wolle sie nicht länger auf die zögernden Ampel-Partner warten.
Es knirscht also leicht im Übergang vom Team Vorsicht zum Team Selbstverantwortung. Letzteres stellt heute im Bundestag seinen Corona-Plan vor, zentrales Element: das Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Mit ihr fällt nicht nur ein sperriger Begriff, auch der Instrumentenkasten der Politik schrumpft. Jetzt, da die Inzidenzen steigen und die Kliniken volllaufen, fallen Kontaktsperren oder Lockdowns zur Pandemiebekämpfung weg – umso mehr liegt der Fokus auf dem Impfen.
Dabei kommt auch Unbequemes auf den Tisch: etwa eine Impfpflicht für einzelne Berufsgruppen. Die Forscher der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina plädieren dafür. Nötig seien jetzt „Impfpflichten für Multiplikatoren“, sagte ihr Präsident Gerald Haug dem „Spiegel“. Es gehe um Pfleger, Lehrpersonal und weitere Berufsgruppen mit viel Kontakt zu Menschen. Um das kontrollieren zu können, fordert Haug „eine angemessene Regelung zur Offenlegung des Impfstatus“ von Beschäftigten.
Politisch ist das Thema umstritten bis heikel. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek etwa ist skeptisch („Ein Impfzwang löst immer auch Gegenwehr aus“) – ganz anders Ministerpräsident Markus Söder (beide CSU). „Wir brauchen eine partielle Impfpflicht, insbesondere für bestimmte Berufsgruppen“, sagte er gestern. In Bereichen wie Alten- und Pflegeheimen oder Kliniken sei sie „dringend notwendig“.
Söder warnte vor einem „schlimmen Corona-Winter“ und forderte von SPD, Grünen und FDP, „ihr bisheriges Corona-Paket massiv nachzuschärfen“. Abstand, Masken und 3G/2G-Regelungen seien gut, reichten aber möglicherweise nicht aus, um die Corona-Wellen zu brechen.
Auch der Berliner Virologe Christian Drosten sieht einen harten Corona-Winter auf uns zukommen. „Wir haben jetzt im Moment eine echte Notfallsituation“, sagte er im NDR. „Wir müssen jetzt sofort etwas machen.“ Geboten wären aus seiner Sicht Kontaktsperren, juristisch sind sie aber bald kaum mehr möglich. Stattdessen seien auch die Forcierung von Booster-Impfungen ein Weg, allerdings dauere das.
Drosten hält die 3G/2G-Maßnahmen in stark betroffenen Ländern wie Bayern und Sachsen nur für bedingt geeignet, die Pandemie einzudämmen. Auch kostenlose Tests seien zwar prinzipiell nicht falsch, aber nicht ausreichend. „Wir haben 15 Millionen Leute, die eigentlich hätten geimpft sein können und die geimpft sein müssten“, sagte er. Der Weg aus der Pandemie sei klar: „Wir müssen die Impflücken schließen.“ Ohne Fortschritt sei mit mindestens 100 000 weiteren Corona-Toten zu rechnen, „bevor sich das Fahrwasser beruhigt“. Die Ständige Impfkommission empfahl gestern, unter 30-Jährigen nur noch das Biontech-Vakzin zu verabreichen.
Es gibt ein wenig Grund zur Hoffnung. Laut Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wurden zuletzt rund 312 000 an einem Tag gespritzt, so viele wie seit August nicht mehr. Auch in Bayern steigen die Zahlen. „Die Richtung stimmt, reicht aber noch nicht, um die Dynamik zu brechen“, twitterte Spahn. Sorgen bereitet auch der zu geringe Fortschritt bei Booster-Impfungen. Drei Millionen Bürger haben inzwischen eine, zu wenige. „Deutschland streitet über die Impfpflicht und 2G-Maßnahmen, schafft es aber nicht, Impfwilligen ein ‚Booster‘-Angebot zu machen“, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Nötig seien 20 Millionen Drittimpfungen bis Weihnachten.
Heute wird sich erstmals der wohl baldige Kanzler Olaf Scholz (SPD) zur Lage äußern. Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen kündigte eine „unmissverständliche Botschaft über den Ernst der Lage“ an. Vielleicht gibt es dann ja auch Neuigkeiten über eine mögliche Ministerpräsidentenkonferenz.
Eines ist jetzt schon sicher: Ab kommender Woche soll es wieder kostenlose Schnelltests geben. Für jeden Bürger einen pro Woche verspricht Jens Spahn. mit dpa/afp