Bielefeld/Bremen – Annette Kurschus hat Respekt vor ihrer Rolle als neues Gesicht des deutschen Protestantismus. Die Aufgaben und die Erwartungen an Kirche seien noch immer groß, sagt die frisch gekürte Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gestern nach ihrer Wahl. Der Rückenwind der Synode, die sie mit 126 von 140 Stimmen an die Spitze der gut 20 Millionen Protestanten in Deutschland gewählt hat, sei ihr Auftrag und Ansporn. Es gehe darum, mit der christlichen Botschaft die Hoffnung wachzuhalten: „Wir haben einen Ton in das Leben einzutragen, den sonst niemand einträgt. Diesen Ton dürfen und werden wir der Welt nicht schuldig bleiben.“
Kurschus strahlt Optimismus und einen fröhlichen Glauben aus. Auch eine Kirche mit weniger Mitgliedern und weniger Geld werde ihre Stimme einbringen und in die Gesellschaft wirken. Von sinkenden Mitgliederzahlen lässt sich die 58-Jährige nicht Bange machen.
Die westfälische Präses steht für eine zugleich fromme und politische Kirche. Sie gilt als charismatische Rednerin mit Sprachgefühl und feinem Humor. Ihr Amtsvorgänger im EKD-Ratsvorsitz, Heinrich Bedford-Strohm, lobte ihre „brillanten Predigten und Andachten“, mit denen sie viele Menschen immer wieder berühre. Im Blick ist dabei vor allem, wie Kur- schus 2015 nach dem Germanwings-Absturz mit 150 Toten im Trauergottesdienst im Kölner Dom das Entsetzen einfühlsam in Worte fasste. Auch der ZDF-Gottesdienst zu Ostern 2020 während des ersten Corona-Lockdowns brachte ihr viel Anerkennung ein. Nach sechs Jahren als Ratsvize im Schatten des medial äußerst präsenten Bedford-Strohm steht Kurschus nun in der ersten Reihe der EKD und will dort auf ihre eigene Art biblische Aspekte in die Öffentlichkeit bringen. Die Themen dürften sich dabei kaum ändern: Kurschus setzt sich in ihren bisherigen Spitzenämtern beharrlich für die Aufnahme von Flüchtlingen ein und wendet sich entschieden gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Beim Dortmunder Kirchentag 2019 unterstützte sie für die gastgebende Landeskirche die Entscheidung, AfD-Funktionären kein „Podium für ihre populistische Propaganda“ zu bieten.
Wichtige Themen sind für Kurschus auch der Klimaschutz und Solidarität mit „Verliererinnen und Abgehängten“. Die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals will sie zur „Chefinnensache“ machen.
Kurschus wurde am 14. Februar 1963 in Rotenburg an der Fulda geboren, sie ist ledig und hat keine Kinder. Nach Beginn eines Medizinstudiums wechselte sie 1983 zur evangelischen Theologie und studierte in Bonn, Marburg, Münster und Wuppertal. In Siegen machte sie ab 1989 ihr Vikariat, wurde 1993 Gemeindepfarrerin und 2005 Superintendentin.
Wie sich die Zeiten ändern: Als vor zwölf Jahren Margot Käßmann als erste Frau Ratsvorsitzende der EKD wurde, wirkte dies als Zeichen des Aufbruchs. Bei Kurschus ist das nicht mehr der Fall. Aber dass sie ihre Botschaft wortgewaltig wie kaum jemand sonst zu vermitteln vermag, wird ihr oft bestätigt. Kommende Woche erhält sie nicht umsonst den ökumenischen Predigtpreis verliehen. INGO LEHNICK