Washington – Nur wenige Minuten nach dem „Nicht schuldig“-Urteil für den 18-jährigen Kyle Rittenhouse, der im Sommer letzten Jahres in der Stadt Kenosha im Bundesstaat Wisconsin bei Krawallen nach einer Demonstration zwei Männer erschossen und einen dritten schwer verletzt hat, meldet sich US-Präsident Joe Biden gleich zweimal zu Wort. Zunächst sagt er spontan, das Urteil der zwölf Geschworenen müsse respektiert werden – und das Justizsystem im Land habe funktioniert. Eine Stunde später relativiert er diese Aussage, nachdem er offenbar mit Beratern gesprochen hatte. Nun appelliert Biden an die Bürger, Ruhe zu bewahren. Das Urteil lasse viele Amerikaner „verärgert und besorgt“ zurück.
Diese überraschende Wende des Präsidenten dürfte gleich zwei Zwecken dienen. Zum einen will sich Biden angesichts des Freispruchs, der die Nation mal wieder in zwei Lager spaltet, auf die seiner Ansicht nach „richtige Seite“ stellen. Denn während vor allem Konservative und die Waffenlobby Rittenhouse als Volkshelden sehen, der Geschäfte vor Brandstiftung schützen wollte und sich nur gegen Angriffe gewehrt habe, sehen Bürgerrechtsorganisationen den am Tattag 17-Jährigen als Mörder.
Zum anderen dürfte sich Biden in einer prekären Lage sehen: Kurz nach dem Vorfall hatten er, damals Präsidentschaftskandidat und damit nicht gegen Gerichtsklagen immun, den Jugendlichen als „weißen Rassisten“ bezeichnet. Nun hat der Präsident ein Problem, das bei den absehbaren Zivilklagen von Rittenhouse wegen Verleumdung teuer werden könnte. Denn die Opfer von Rittenhouse waren Weiße, und für eine rassistische Komponente bei den Schüssen oder eine Mitgliedschaft in einer rechtsextremen Bewegung gibt es keine Hinweise.
Von der Rechtslage her hatten viele Experten einen Freispruch durch die Geschworenenjury vorhergesagt, denn im Verfahren kamen entlastende Fakten ans Licht, die das in Wisconsin verankerte Recht zur Selbstverteidigung selbst mit tödlicher Gewalt stützen. Der erste der drei Männer, der 36-jährige vorbestrafte Sex-Verbrecher Joseph Rosenbaum, hatte – wie auf Drohnenaufnahmen zu sehen ist – Rittenhouse verfolgt und attackiert, nachdem er Zeugen zufolge den Jugendlichen zuvor mit dem Tod bedroht hatte. Als Rosenbaum nach dem Schnellfeuergewehr von Rittenhouse griff, feuerte dieser vier Schüsse ab und tötete den Angreifer.
Dann bewegte sich der Jugendliche auf einen 300 Meter entfernten Polizeikordon zu, während ein Teil der Menge ihn verfolgte. Anthony Huber (26), wegen Körperverletzung vorbestraft, schlug Rittenhouse mit einem Skateboard auf den Kopf. Rittenhouse stürzte und feuerte auf Huber, den ein Schuss tödlich in die Brust traf. Auch beim dritten Opfer von Rittenhouse sahen die Geschworenen einmütig das Recht zur Selbstverteidigung. Gaige Großkreutz (27), ein gerichtsbekannter Einbrecher, hatte sich dem am Boden liegenden Teenager genähert, nach eigenen Angaben seine Glock-Pistole gezogen und auf den Kopf von Rittenhouse gezielt. Rittenhouse feuerte daraufhin einen Schuss ab, der Großkreutz in den Oberarm traf. Solche Details, die nicht zur von der Anklage verbreiteten Theorie eines „aktiven Amokschützen“ passen, wurden von der Verteidigung erfolgreich vorgetragen. In manchen Medien und auch auf dem Kapitol gibt es allerdings massive Kritik an den Geschworenen.
Kongressabgeordnete der Demokraten äußerten am Wochenende die Befürchtung, das Urteil könne nun Waffenbesitzer dazu animieren, sich als Quasi-Polizei und Rächer zu betätigen. In mehreren US-Metropolen gab es Proteste, meist friedlich. Der Vorwurf des illegalen Waffenbesitzes, den die Staatsanwaltschaft wie die anderen Vorwürfe offenbar überhastet zu Papier gebrachte hatte, war bereits vom Gericht gestrichen worden: Rittenhouse durfte auch als 17-Jähriger das Schnellfeuergewehr vom Typ AR 15 legal besitzen, das ihm ein Freund in Wisconsin besorgt hatte. Rittenhouse begrüßte den Freispruch mit den Worten, er habe sich lediglich verteidigt und um sein Leben gefürchtet. Mehrere Volksvertreter der Republikaner wollen ihn nun sogar als Mitarbeiter anstellen.