Zerstritten auf Regierungskurs

von Redaktion

Ministerstreit beendet die Grünen-Harmonie – Urabstimmung hat begonnen

Berlin – Überschattet von heftigen Personalquerelen haben die Grünen ihre Urabstimmung begonnen. Die 125 000 Parteimitglieder können bis zum 6. Dezember über den Koalitionsvertrag mit SPD und FDP sowie über die grüne Kabinettsriege befinden. Noch am Nikolaustag soll das Ergebnis verkündet werden. Ob die Grünen bis dahin wieder in Feierlaune sind, bleibt abzuwarten. Denn die Besetzung ihrer fünf Ministerposten hat einen heftigen Flügelstreit ausgelöst, dessen Folgen noch nicht absehbar sind.

Der Start der Grünen in die Regierungsverantwortung nach 16 Jahren in der Opposition ist damit belastet. Eine solche Situation hat es nicht mehr gegeben, seit die beiden Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck Anfang 2018 das Ruder übernahmen. Spätestens als die Parteiführung am Donnerstagnachmittag den Start der Urabstimmung um einen Tag verschieben musste, weil es noch keine Einigkeit über die personelle Aufstellung gab, war die Katze aus dem Sack.

Das Ergebnis der Auseinandersetzung steht nun schwarz auf weiß fest: Ex-Parteichef Cem Özdemir soll Agrarminister werden, für den linken Fraktionschef Anton Hofreiter bleibt kein Platz am Kabinettstisch. Linke in der Partei erbittert das, Hofreiter galt als gesetzt. Özdemir ist redegewandt, gewitzt, fuhr ein brillantes Wahlergebnis ein und beherrscht das leichtfüßige Spiel mit der Öffentlichkeit. Für die Außenwirkung der Grünen dürfte sich der erste Bundesminister mit türkischen Wurzeln als Pfund erweisen. Doch dank des Streits, den seine Aufstellung auslöste, gehen die Grünen mit einer Hypothek in die neue Regierung.

Dass Hofreiter und Özdemir nicht einfach beide Minister werden können, liegt an den Regeln für die Besetzung solcher Ämter. Entsprechende Befindlichkeiten gibt es auch in anderen Parteien, bei den Grünen sind sie vielleicht ein wenig weitreichender. Sie sehen vor, dass Posten normalerweise mindestens zur Hälfte an Frauen gehen, zudem wollen beide Flügel, Linke und Realos, ihre Interessen ausgewogen vertreten sehen.

Die beiden aktuellen Parteichefs Baerbock und Habeck sind Realos und waren von Anfang an gesetzt für die vier bis fünf Ministerämter, die sich die Grünen erhofften. Damit war klar, dass Özdemir und Hofreiter nicht beide zum Zug kommen können – Stichwort Männermehrheit. Nun sind mit der künftigen Familienministerin Anne Spiegel und Umweltministerin Steffi Lemke zwei weitere Frauen neben Baerbock im Boot. Der sechste Posten, der nun an die Linke Claudia Roth als Staatsministerin für Kultur und Medien gehen soll, ist kein vollwertiges Ministeramt und wurde nicht mitgezählt.

Nach linker Lesart zauberte der Parteivorstand Özdemir als böse Überraschung aus dem Hut. Von Wortbruch ist die Rede, von zerstörtem Vertrauen. Die Leistung bei den Koalitionsverhandlungen habe auch eine Rolle gespielt, geben hingegen Realos zu bedenken.

In den vergangenen Jahren, und erst recht im Wahlkampf, gaben die Grünen sich staatstragend und harmonisch. Parteichef Habeck philosophiert, wann immer man ihn lässt, über die Verbindung ideologischer Gegensätze, denen etwas Neues, Besseres entsprießen solle. Co-Chefin Baerbock mahnt das Land unverdrossen, „über sich hinauszuwachsen“. Nun raufen sie wieder, die Grünen, und am Tag nach dem Knall wirken sie verkatert und ein wenig überrascht von sich selbst. M. HERZOG & M. FISCHER

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