„Der Westen flieht vor seiner Verantwortung“

von Redaktion

INTERVIEW Die indische Aktivistin Vandana Shiva kritisiert Ergebnisse des UN-Klimagipfels

Die indische Wissenschaftlerin Vandana Shiva (69) ist eine soziale Aktivistin und Globalisierungskritikerin. Für ihr Engagement wurde sie mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Unsere Zeitung hat mit ihr über den Klimawandel und die Corona-Pandemie gesprochen.

Sie sind studierte Physikerin und gelten nun als Expertin für Landwirtschaft und Umweltfragen. Wie kam es dazu?

Ich habe 1973 meinen Abschluss in Teilchenphysik in Punjab gemacht. 1984 haben dort Bauern gegen die „Grüne Revolution“ protestiert. Die Weltbank, die Rockefeller Stiftung und die US-Regierung wollten den indischen Landwirten Chemikalien aufzwingen. Als Physikerin schaute ich aus dem Blickwinkel der Quantenphysik auf diese Ereignisse: kontextabhängig und nicht bloß mechanistisch. Diese Perspektive prägt mich auch heute noch.

In Europa ist der Klimawandel ein sehr zentrales Thema. Ist das in Indien ähnlich?

Zunächst ist der Klimawandel eine abstrakte Definition des Problems. In Indien sprechen wir über Klimakatastrophen und -extreme: das heißt weniger über die Ursachen, mehr über die Folgen des Klimawandels. Grundsätzlich kann die Erde ihr Klima selbst regulieren, sie ist ja ein selbstorganisiertes System. Fossile Brennstoffe waren nicht Teil dieses Systems. Mein Punkt ist der: Oft wird das Problem einfach nur auf Zahlen reduziert, statt auf die Ursachen zu schauen.

Was muss sich an unserem Blickwinkel verändern?

Zunächst müssen wir anerkennen, dass die Erde lebt. Fotosynthese ist ein Prozess, der funktioniert und wir können ihn nicht einfach ignorieren. Hört auf zu behaupten, dass die Erde tot ist! Außerdem müssen wir fossile Brennstoffe unter der Erde lassen. Jede Chemikalie in der Landwirtschaft hat ihren Ursprung in fossilen Brennstoffen. Es muss ein Ende haben, dass diese giftigen Chemikalien weiter produziert werden, obwohl sie Arten auslöschen und bei uns Menschen zu Krebserkrankungen führen.

Viele Menschen wollen nachhaltig leben, aber sie verhalten sich im Zweifel nicht so. Wer ist denn verantwortlich – der Konsument oder die Regierung?

Es ist ganz klar Sache der Regierung. Die Hälfte der europäischen Steuereinnahmen gehen in die industrielle Landwirtschaft, um Nahrungsmittel günstig zu machen – damit werden aber Bio-Lebensmittel teuer. Und schauen Sie sich die Steuervorteile an: Amazon zahlt überhaupt keine Steuern. Es ist ein Betrug am echten Preis. Hier gibt es aber auch noch einen anderen Aspekt: Es ist sehr teuer für Bio-Landwirte, sich überhaupt zertifizieren zu lassen. Und das sollte es eigentlich nicht sein.

Wie bewerten Sie die Ergebnisse des UN-Klimagipfels in Glasgow?

Die Ergebnisse waren äußerst schlecht. Einerseits verwässert es die UN-Klimakonvention noch weiter. Ursprünglich geht es dort darum, Emissionen zu stoppen. Nun ist das Ergebnis, dass Verschmutzung weitergehen darf. Ich bin mir sicher, dass die Umweltverschmutzer neue Wege und Tricks finden werden, das weiter zu tun. Indien wurde für das Thema Kohle stark kritisiert. Aber eigentlich steckten die USA dahinter. Dabei hätten eigentlich Öl und Gas thematisiert werden müssen, was aber nicht der Fall war. Gleiches gilt für Stickstoffmonoxid. Nun gibt es ein Ergebnis zu Methan, aber das basiert nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Aus meiner Sicht müssen wir dringend auf die Finanzsysteme schauen, die hinter unserem landwirtschaftlichen System stecken.

Das klingt sehr pessimistisch. Wie können wir noch eine Lösung finden?

Ich finde, es ist eher ehrlich als pessimistisch. Wir müssen das Problem anerkennen. Die grüne Bewegung wächst. Wir können es bewältigen, wenn wir uns an den Bewegungen orientieren, die Natur nicht als Ware oder Finanzanlage sehen.

Welche Rolle spielt Corona in dieser Frage?

Im ersten Lockdown wurde der Ganges plötzlich wieder blau, wir konnten sogar Delfine sehen. Die Leute sind aufgewacht, haben die Macht der Natur erlebt. Aber nach eineinhalb Jahren Pandemie haben Millionen von Menschen ihre Jobs verloren. Ihr Dasein wird bedroht. Zugleich haben die energieintensiven Prozesse der Produktion zugenommen, so wie der Reichtum von Milliardären. Da ist der Klimawandel kein so präsentes Thema mehr. Anders ist es für die, die von Wetterextremen direkt betroffen sind. Vermutlich ist das in Deutschland ähnlich.

Was ist Ihre Erwartung an die großen Industrienationen?

Sie sind verantwortlich für den Großteil der Verschmutzung und haben 100 Milliarden Dollar für Klimafinanzierung versprochen. Aber sie haben nur 77 Milliarden bereitgestellt. Ein Großteil in Krediten, was den tatsächlichen Transfer auf 12 Milliarden reduziert. Zum Vergleich: Indien hat Schäden in Höhe von 87 Milliarden Dollar durch Zyklone und Überschwemmungen, ausgelöst durch Klimawandel. Der Westen flieht vor seiner Verantwortung.

Interview: Heidi Geyer

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