Studie: Ungeimpfte an neun von zehn Ansteckungen beteiligt

von Redaktion

Neue Berechnungen von Berliner Wissenschaftlern zeigen, warum die deutsche Infektionsdynamik gerade so hoch ist

München – Die Intensivstationen im Land laufen voll und die Sieben-Tage-Inzidenz liegt deutschlandweit noch immer weit über 400. Die vierte Wellen bringt das Gesundheitssystem fast zum Überschwappen. Aber woher kommen sie, die extremen Ansteckungszahlen? Wer treibt das Infektionsgeschehen an?

Für Physiker und Modellierer Professor Dirk Brockmann von der Berliner Humboldt-Universität ist die Antwort klar. Die vierte Welle „ist wie aus dem Lehrbuch für Evolutionsbiologie“, sagte er kürzlich in einem Interview mit der „Zeit“. „In hundert Jahren – sollten wir uns bis dahin nicht selbst ausgerottet haben – wird man das rauspicken und sagen, guck mal, so ist das damals passiert. Und es geschah mit solcher Vehemenz, dass man damit rechnen musste: Wenn dieses Ding, also Delta, übernimmt, werden im Winter 70 Prozent Impfquote nicht reichen. Dann wird es in den restlichen 30 Prozent der Bevölkerung wie Zunder brennen.“ Die Sieben-Tage-Inzidenz der Umgeimpften betrug in Bayern zuletzt 1726, die der Geimpften lag bei 113.

Das ist das Eine: die reinen Krankheitsfälle. Aber es gibt noch was Anderes – nämlich die Schuldfrage. Und hier sind Brockmann und sein Team durch ein mathematischen Modell zu einem Ergebnis gekommen. Es deute darauf hin, „dass eine Minderheit der Bevölkerung (d. h. die Ungeimpften) einen wesentlichen Anteil zur Infektionsdynamik beiträgt und damit die Hauptursache der sich derzeit verschlimmernden Gesundheitskrise in Deutschland ist“, schreiben die Wissenschaftler. Sie haben ausgerechnet, dass bei etwa neun von zehn Infektionen mindestens eine ungeimpfte Person beteiligt ist. Obwohl die Ungeimpften in der Minderheit sind, bestimmen sie einen deutlichen Teil des Infektionsgeschehens. Die Impfquote in Deutschland beträgt derzeit knapp 69 Prozent.

Für ihre Berechnungen haben die Wissenschaftler Infektionsdaten aus Deutschland genutzt, die aus dem Zeitraum vom 11. Oktober bis zum 7. November stammen. Für die Effektivität der Impfung wurde ein Durchschnittswert von 72 Prozent zugrunde gelegt. Das ist ein Wert, der sich mit Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) deckt. Will heißen: In einer Gruppe Geimpfter verhindert die Corona-Impfung 72 Prozent der Ansteckungen, die in einer gleichartigen Gruppe Ungeimpfter passieren würde. Mit dieser Annahme kommt das Team um Modellierer Brockmann zum Ergebnis, dass über drei Viertel aller Ansteckungen auf Ungeimpfte zurückgehen, die andere infizieren. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Impfung nicht so wirksam ist wie vom RKI angenommen, dann ist das Ergebnis noch immer eindeutig. In einem zweiten Szenario haben die Wissenschaftler berechnet, wie hoch der Anteil der Ansteckungen ist, die von Ungeimpften ausgehen, wenn die Impfung nur zu 50 bis 60 Prozent vor einer Ansteckung schützt. Ergebnis: Auch dann würden noch immer zwei Drittel der Ansteckungen auf das Konto der Ungeimpften gehen.

Brockmann plädiert dafür, mit Impfungen die Infektionsdynamik unter Kontrolle zu bringen. „Man muss schnell handeln“, sagt er. „Geschwindigkeit ist viel wichtiger als Perfektion.“ S.SESSLER

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