München – Fast täglich gibt es neue Berichte über russische Truppenbewegungen an der Grenze zur Ukraine. Mit jedem Bericht scheint das Ausmaß gewaltiger. Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow hatte am Freitag die Zahl von 94 300 russischen Soldaten genannt, die Ende Januar für einen möglichen Angriff bereit stehen könnten. Aus den USA kommen nun Meldungen, die von einem noch größeren russischen Aufmarsch ausgehen.
Wie „Washington Post“ und „New York Times“ berichten, rechnen US-Geheimdienste mit einer möglichen russischen Offensive mit bis zu 175 000 Soldaten. Moskau könnte diese bis Anfang des Jahres vorbereiten. Es sei aber unklar, ob Russlands Präsident Wladimir Putin die Ukraine auch tatsächlich angreifen wolle, zitieren die Zeitungen die Geheimdienste.
Den Angaben zufolge sollen mit der Verlegung der Soldaten auch Artillerie, Panzer und weiteres schweres Gerät an verschiedenen Orten entlang der ukrainischen Grenze aufgefahren werden. Die Analyse stützt sich demnach teils auf Satellitenbilder, die im November „neu angekommene Einheiten“ entlang der Grenze zeigten, hieß es.
US-Präsident Joe Biden bestätigte die Berichte nicht, sagte aber laut Pressebüro des Weißen Hauses: „Wir sind uns Russlands Aktionen seit Langem bewusst und ich erwarte, dass wir eine lange Diskussion haben werden.“
Biden und Putin sollen morgen bei einem Video-Treffen auch über die Ukraine sprechen. Biden kündigte an, er werde „das umfassendste und bedeutsamste Bündel an Initiativen zusammenzustellen, um es Herrn Putin sehr, sehr schwer zu machen, weiter voranzuschreiten und das zu tun, was die Menschen besorgt sind, das er tun könnte.“ Was konkret, ließ er offen.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell versicherte, die EU stehe an der Seite der Ukraine. Es gehe nun darum, Moskau einen „Ausblick möglicher Konsequenzen“ aufzuzeigen. Er wurde aber ebenfalls nicht konkreter. Dass die Nato bei einem russischen Einmarsch in die Ukraine nicht direkt militärisch eingreifen wird, gilt unter Beobachtern als sicher. CSU-Vize Manfred Weber fordert nun, das Aus für die Gaspipeline Nord Stream 2 klar als Preis für einen russischen Waffeneinsatz in der Ukraine zu benennen.
Das russische Außenministerium warf den USA vor, eine „Sonderoperation“ durchzuführen, „um die Lage in der Ukraine zu verschärfen und gleichzeitig die Verantwortung auf Russland abzuwälzen“, so eine Sprecherin am Samstag. „Es basiert auf provokativen Aktionen nahe der russischen Grenze, begleitet von anklagender Rhetorik gegen Moskau.“
Nato-Manöver nahe der russischen Grenze, etwa in den baltischen EU-Mitgliedsstaaten, prangert Russland immer wieder an, ebenso Waffenlieferungen an die Ukraine wie jüngst zwei Patrouillenboote aus den USA. Putin hatte seit April immer wieder von roten Linien für seine Sicherheitsinteressen gesprochen. Wer sie zu überschreiten wage, werde dies bereuen. Schon im Frühjahr hatte Moskau Truppen an die russisch-ukrainische Grenze verlegt und nach Wochen wieder abgezogen.
Noch immer kämpfen im Osten der Ukraine Regierungstruppen gegen pro-russische Separatisten. Moskau dementiert seit Jahren Berichte, diese zu unterstützen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnt, der Konflikt sei nur im Dialog mit Moskau zu lösen. Dagegen gibt es Widerstände im eigenen Land. Deeskalierende Töne dringen kaum durch. Auch Biden setzt im Moment darauf, Stärke und Beharrlichkeit zu demonstrieren. Auf die Reporterfrage, ob er Putins rote Linie akzeptieren würde, sagte er: „Ich werde die rote Linie von niemandem akzeptieren.“ sr/dpa/afp