100 Tage für Olaf Scholz?

von Redaktion

HISTORIE Woher die Schonfrist für neu gewählte Politiker kommt

München – Geben Sie mir einhundert Tage, bevor Sie meine Arbeit bewerten: So bat der frisch gewählte US-Präsident Franklin Delano Roosevelt (1882-1945) die Presse bei seinem Amtsantritt im März 1933 um ein Stillhalteabkommen. Wie bitte? Eine freie Presse, welche ausgerechnet die Arbeit des neuen Präsidenten 100 Tage lang nicht bewerten soll? Roosevelt kam damit durch, denn alle, auch die Journalisten, hatten seine ernsten Gründe vor Augen.

Das war die Geburtsstunde jener 100-Tage-Frist, an die auch jetzt wieder in manchen Artikeln über die Wahl von Olaf Scholz erinnert wurde. Die Regel besagt, dass man einer neuen Regierung vor einer Bewertung Zeit zum Einarbeiten gewährt.

Die USA befanden sich vor Roosevelts Amtsantritt in der schwierigsten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte. Der New Yorker Börsencrash vom Oktober 1929 war Startschuss für die Weltwirtschaftskrise gewesen, wie sie noch nie da gewesen war: Unternehmenspleiten zogen sich um den Globus, Bankenkrisen, Massenarbeitslosigkeit und Überschuldung stürzten massenhaft Menschen ins Elend.

So stilbildend wirkte das US-Beispiel, dass sich die 100-Tage-Frist im Journalismus westlicher Prägung generell als jene Frist etablierte, in der die Arbeit eines neu in ein wichtiges Amt gekommenen Politikers zunächst noch nicht bewertet werden sollte.

Warum aber 100 Tage? Zu lesen ist oft, dass für Roosevelt das historische Beispiel von Napoleons berühmten 100 Tagen zwischen dem Ausbruch aus dem Exil auf Elba und seiner endgültigen Niederlage bei Waterloo Pate stand. Dieses welthistorische Drama spielte sich zwischen dem 1. März und dem 18. Juni 1815 als hundert Tage, die als jene Frist in die Geschichte eingingen, in der endgültig über Sieg oder Niederlage entschieden würde.

Heutzutage, mit Blick auf Twitter und Facebook, wo jeder Urteile und Vorurteile verbreiten kann, auch ohne Rücksichtnahme auf Hintergründe, scheint auch die journalistische Rücksichtnahme zunehmend aus der Zeit zu fallen. TIBOR PÉZSA

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