München – Lars Klingbeil kann laut werden – das hat er bewiesen, als er das letzte Mal in München war. Der Marienplatz war eine der letzten Stationen auf der Tournee von Olaf Scholz. Klingbeil, der Mann hinter Scholz’ Wahlkampf, musste auf der Bühne etwas ins Mikro brüllen. Nicht nur, um den Jubel der Genossen zu dämpfen, sondern auch um das Gegröle der FC-Bayern-Fans im Hintergrund zu übertönen. „Wenn man beim Fußball in der 85. Minute führt, bricht man das Spiel auch nicht triumphierend ab“, sagte er. „Man versucht alles, um noch ein Tor zu schießen.” Wenig später führen die Bayern 7:0 gegen VfL Bochum. Und acht Tage später gewinnt die SPD die Bundestagswahl.
Seinem Lieblingsverein hat Klingbeil nicht zum Sieg verholfen, seiner Partei schon. Der Noch-Generalsekretär gilt als Architekt der SPD-Wahlkampagne, als der Mann, der Olaf Scholz ins Kanzleramt gehievt hat. Am heutigen Samstag soll er belohnt werden: Dann stellt er sich als Nachfolger von Norbert Walter-Borjans zur Wahl, um mit Saskia Esken die SPD zu führen. Für manche galt er ohnehin schon als heimlicher SPD-Chef.
Der fast Zwei-Meter-Mann traut sich Großes zu. Eigentlich hätte sich der 43-jährige Niedersachse auch den Posten als Verteidigungsminister vorstellen können. Jetzt wird es der Parteivorsitz. Beides gleichzeitig geht nicht, das Ministeramt muss noch warten.
Dabei wurde der Soldatensohn schon länger als Verteidigungsminister gehandelt – die Bundeswehr ist neben Digitalisierung Klingbeils Lieblingsthema, seit elf Jahren sitzt er im Verteidigungsausschuss des Bundestags. Er war nicht immer ein Fan vom Militär – aber das änderte sich, als er am 11. September 2001 als Praktikant in Manhattan Zeuge der Anschläge auf das World Trade Center wurde.
Klingbeil legte eine steile Karriere hin – auch in den Episoden, in denen seine Partei am Boden lag. Nach seinem Studium in Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte arbeitet er erst im Wahlkreisbüro vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, damals noch mit Piercing in der Augenbraue. 2009 zieht er in den Bundestag. Als die SPD 2017 mit 20,5 Prozent ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis aller Zeiten kassiert, gewinnt Klingbeil das erste Mal ein Direktmandat.
Ein paar Wochen später schlägt ihn der damalige SPD-Chef Martin Schulz als Generalsekretär vor – Klingbeil soll den Scherbenhaufen der Sozialdemokraten zusammenkehren. Irgendwie schafft er das. Er bleibt auch im Amt, als die Vorsitzenden wechseln: Auf Schulz folgt Andrea Nahles, auf Nahles das Duo Esken/Walter-Borjans. Vielleicht liegt es an der freundlichen, unaufgeregten Art, mit der er Politik macht. Klingbeil genießt in seiner Partei große Sympathie und gilt zum Beispiel als enger Freund von Kevin Kühnert, obwohl der im Gegensatz zu Klingbeil dem linken Spektrum der Genossen angehört.
Als künftiger SPD-Chef wird Klingbeil auch ein Gegengewicht zur Co-Chefin Saskia Esken sein, die immer wieder versucht, die Partei weiter nach links zu ziehen. Ob sich die beiden perfekt ergänzen oder es zu einem Tauziehen kommt, wird sich dann noch zeigen.
Als Rebell der Partei gilt er jedenfalls nicht. Auch das Augenbrauenpiercing ist schon lange weg. Den Rockstar lässt er höchstens mal raus, wenn er hobbymäßig auf den Gitarren in seinem Büro klimpert. KATHRIN BRAUN